Knochenkälte
unpassierbare Straßen. Auf einem Foto fährt ein Typ auf Skiern eine Straße in Barrie runter.
»Es hat vor fünfzehn Jahren also geschneit, fein, na und?«, nuschele ich um das Thermometer herum.
»Nein, darunter«, sagt Howie.
Unter der Schneesturmstory ist ein kleines Bild von einem weiblichen Teenager. Die Unterschrift lautet: »Wer hat Brianna gesehen?«
Der Artikel handelt von Brianna Watts aus Harvest Cove. Nachdem sie durch einen Tierbiss mit Tollwut infiziert worden war, hatte man ihr ein paar Spritzen verpasst, aber dann war sie plötzlich verschwunden. War zuletzt in der Nacht zum 9. Januar gesehen worden. Ihre kleinere Schwester sagte aus, sie hätten zusammen ferngesehen, da wäre Brianna plötzlich aufgestanden und ohne ein Wort im Schlafanzug aus dem Haus in den Schneesturm hinausgegangen. Briannas Mutter wird zitiert: »Sie hat keine Jacke dabei, keinen Schlüssel, keine Tasche, gar nichts. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was da passiert ist. Sie war seit sechs Wochen krank. Der Schüttelfrost war wirklich schlimm und irgendwie war sie nicht mehr sie selbst.«
Ich schaue Howie an. »Wurde sie gefunden?«
»Nein, sie ist einfach spurlos verschwunden. Kein Anzeichen
für Fremdverschulden, also wurde sie als normaler Vermisstenfall behandelt. Von zu Hause weggelaufen blabla. Aber da sind noch mehr Sachen.« Er reicht mir ein paar Blätter.
Der nächste Fall liegt schon einundzwanzig Jahre zurück. 1. Februar. »Einheimische Jungen von Bären angegriffen«, lautet die Überschrift. Zwei Brüder, dreizehn und vierzehn Jahre alt, behaupten, am Vorabend auf dem Heimweg von einem Eishockeyspiel angegriffen worden zu sein. Ein riesiger weißer Bär hätte sie verfolgt. Am Ende hätten sie ihn verscheucht und nur ein paar Kratzer und Schrammen davongetragen. Die ortsansässige Polizei sei skeptisch, denn erstens gäbe es in der Region Simcoe ausschließlich Schwarzbären, und zweitens müssten die Bären zu dieser Jahreszeit Winterschlaf halten und damit inaktiv sein. Außerdem seien die Beschreibungen der Jungen von dem Tier sehr widersprüchlich. Aber für alle Fälle habe die Polizei für Harvest Cove und die Nachbargemeinden eine »Bärenpatrouille« eingerichtet.
Auf dem nächsten Blatt ist ein weiterer Artikel über die zwei Brüder. 12. Februar. »Brüder vermisst.« Vielleicht von zu Hause weggelaufen. Es war bekannt, dass es zu häuslicher Gewalt zwischen den Eheleuten gekommen war, aber die Mutter sagte, das hätte nichts mit dem Verschwinden ihrer Söhne zu tun: »Meine Kinder würden mich nie im Stich lassen. In jeder Familie gibt es mal Probleme, aber meine Jungs würden nicht einfach so aufstehen und gehen. Ich verstehe das alles nicht.« In dem Artikel wird auch erwähnt, dass die Jungs krank und daher seit einiger Zeit nicht in der Schule gewesen seien. Unten sind dann Bilder von den Brüdern abgedruckt, Angaben zu Größe und Gewicht und die Nummer, wo man anrufen kann.
»Und?«, fragt Ash. »Sind sie wieder aufgetaucht?«
Howie schüttelt den Kopf. »Ein paar Jahre später gab es einen Artikel mit verfremdeten Fotos, wie sie aktuell aussehen könnten und so. Aber nichts.«
Ich blättere den Papierstapel in meiner Hand flüchtig durch.
»Wie vie…« Ich hole das Thermometer raus. »Wie viele solcher Geschichten hast du?«
»Zu viele«, sagt Howie. Dann deutet er mit dem Kopf zum Thermometer hin. »Wie sieht’s aus?«
»Ähm... Moment mal. Das ist ja viel zu niedrig. Das Ding muss kaputt sein.«
Ash nimmt mir das Thermometer aus der Hand. »Wow«, sagt sie, nachdem sie es abgelesen hat. »Voll im Eimer, das Teil.«
Howie schüttelt den Kopf. »Wir haben noch ein zweites unten im Badezimmer. Aber das wird auch nichts anderes anzeigen.«
»Das stimmt«, sagt Pike.
Ash sieht stirnrunzelnd erst auf das Thermometer und dann zu Howie hin. »Nur Leichen haben so eine Körpertemperatur.«
»Fass ihn mal an«, sagt Howie.
»Häh?«
»Fass mal Dannys Hand an.«
»Okay«, sagt Ash, als wäre das ein Trick oder so.
Ich halte ihr die Hand wie zur Begrüßung hin. Mit einem unsicheren Lächeln greift sie danach. Und lässt mich mit einem erschrockenen Keuchen wieder los.
»Was ist denn?«, frage ich.
Ich schaue meine Hand an. Sieht ganz normal aus. Auch als ich die Handflächen aneinander reibe, spüre ich nichts Ungewöhnliches.
»Du bist eiskalt«, sagt Ash.
»Aha. Mir ist aber nicht kalt. Aber du fühlst dich an, als hättest du hohes Fieber.«
Bei dem ganzen Chaos
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