Knochenkälte
letzten Traum.
Als ich an einem Klassenzimmer vorbeikomme, spähe ich durch das kleine Fenster in der Tür und sehe Schüler, die an ihren Pulten sitzen. Reglos und ohne zu blinzeln, starren sie geradeaus. Alle Köpfe sind kahl. Und an allen fehlt die Schädeldecke. Der Knochen ist fein säuberlich ausgesägt worden und gibt den Blick auf die Falten und Verwerfungen ihres Gehirns frei.
Saure Galle steigt mir in der Kehle hoch. Ich will gerade wegrennen, als mir ein Gesicht ins Auge springt und mich erstarren lässt.
In der ersten Reihe sitzt ein Mädchen mit großen runden Augen. Sie hat nur ein übergroßes T-Shirt an, das ihr wie ein Nachthemd bis zu den Knien reicht. Irgendwoher kenne ich dieses Gesicht doch.
Wer hat Brianna gesehen? Einer der Artikel, die Howie im Internet gefunden hat. Von dem Mädchen, das vor Jahren verschwunden ist. Ich erinnere mich an die großen Augen, die einen aus dem Zeitungsbild heraus ansahen.
Sie ist hier. Und wer sind die anderen? Sind das die vielen Vermissten?
Brianna lässt ihren Blick schweifen und bohrt ihn in meine Augen. Ich fange an zu japsen, ein elektrischer Schlag knistert sich mein Rückgrat hoch.
Das Entsetzen in ihren großen Augen ist schlimmer als alles, was ich je gesehen habe. Sie flehen mich in stummer Panik an: Hilf mir! Rette mich!
Plötzlich höre ich unter mir eine Tür ächzen. Ich löse mich aus dem Klammergriff von Briannas Blick. Irgendwas kommt die vordere Treppe herauf, das Klackern der Schritte hallt von den Wänden wider. Das sind Klauen, die auf dem Betonboden scharren!
Meine nackten Füße klatschen auf die Fliesen, als ich in wilder Hast an den anderen Klassenzimmern vorbeifetze, ohne einen Blick hinein zu wagen.
Gerade als ich am Ende des Flurs angekommen bin, wird die Doppeltür hinter mir aufgestoßen. Ich schaue mich um - am anderen Ende des Flurs lauert die Bestie, tief gebückt, um unter die Decke zu passen. Sie reißt das Maul zu einem Brüllen auf, das die Türen zur hinteren Treppe aufbrechen lässt.
Ich taumele die Stufen hinunter, meine nackten Füße klatschen hart auf den Beton. Ich verziehe das Gesicht, als der Schmerz mir die Unterschenkel hochschießt. Ich dachte, es wäre sozusagen Gesetz, dass man in Träumen keinen Schmerz spürt?
Ich krache durch den Hintereingang nach draußen, stolpere ein paar Schritte in die Dunkelheit hinaus, bevor mir bewusst wird, dass hier irgendwas nicht stimmt. Wo ist der Parkplatz? Und das Baseball-Feld hinter der Schule? Ich schaue über die Schulter zurück und sehe... nichts.
Das Schultor ist weg. Die Schule ist weg.
Wo...?
Vor mir ragen kahle Bäume auf, graue Flecken in der schwarzen Winternacht. Dahinter ragt das dunkle Skelett der alten Eisfabrik über dem Seeufer auf.
Miss Mercer hat uns mal hierhergebracht. Das war der beschissenste
Schulausflug aller Zeiten. In Harvest Cove gilt so eine Bruchbude als historisches Denkmal.
Aber warum bin ich jetzt hier? Klar, in Träumen ergibt nie etwas einen Sinn, aber warum ausgerechnet dieser Ort? Und wohin soll ich jetzt laufen? Wie soll ich dieser Bestie entkommen? Ich hab keine Chance.
Ohne die Kälte zu spüren, steige ich von einem nackten Fuß auf den anderen. Denk nach, schnell! Von hier braucht man zu Fuß eine halbe Stunde zum Jachthafen. Über das Eis geht’s schneller. Ich kann die Lichter am Anleger wie zwei helle Nadelstiche gerade so erkennen.
Ein Brüllen zerreißt die Nacht und lässt mich erzittern. Die bleiche Monstergestalt schiebt sich aus der verfallenen Fabrikruine nach draußen.
Sie wird mich immer finden.
Die Bestie lässt sich Zeit. Sie hat mich mit Absicht hierhergebracht, wo sie mich unter Kontrolle hat.
Mein Herz pumpt mir Adrenalin in die Adern, kreischt, ich solle wegrennen. Meine Beine sind angespannt und beben, wollen loslaufen. Aber mein Körper nimmt von meinem Gehirn keine Befehle mehr entgegen.
Die Bestie ist vielleicht noch drei Meter von mir entfernt. Die geschlitzten Nasenlöcher öffnen und schließen sich, stoßen Dampfwolken in die Luft hinaus. In ihren gewölbten Augäpfeln kann ich mein Spiegelbild sehen, winzig und hilflos. Meiner Kehle entringt sich ein leises Stöhnen, aber meine Kiefer sind so fest aufeinandergepresst, dass kein Laut nach draußen dringen kann.
Das verzerrte schneebleiche Gesicht schiebt sich an mich
ran. Der riesige Mund klafft ein Stück weit auf, darin blitzen die Messerschneiden der Zähne auf. Es flehmt, lässt sich den Geruch meiner Angst auf der Zunge
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