Knochenkälte
lehne immer noch an der Wand und versuche, meinen Puls runterzuatmen, als plötzlich mein Handy klingelt. Ich lese den Namen vom Display ab. »Howie?«
»Danny. Ich rufe an, um dich zu wecken.«
»Warum?«
»Ich war da. Ich hab alles gesehen, was passiert ist.«
»Du warst da?«
»Ich hab gesehen, wie es dich gejagt hat«, sagt er. »Erst in der Schule und dann draußen am See.«
Ich sacke auf meinem Schreibtischstuhl zusammen.
»Wo warst du?«, frage ich. »Ich hab dich nicht gesehen.«
Howie schweigt ein paar Sekunden, ich höre seinen Atem.
»Ich war in seinem Kopf gefangen«, sagt er schließlich. »Hab durch seine Augen rausgeschaut. Hab alles gesehen, was es mit dir gemacht hat. Es war so schrecklich.«
Ich sehe zum Fenster hin, erwarte beinahe, dort jemanden zu entdecken, der mich anstarrt.
»Weißt du«, sage ich. »Das war wirklich seltsam. Extrem seltsam. Kurz bevor es mich... du weißt schon... angegriffen hat... Es war, als würde ich aus meinem Körper rausgesaugt werden und in seinen Kopf hinein. Und dann konnte ich durch seine Augen sehen, was es mit mir machte.«
Howie schweigt diesmal sehr lange, sein Atem dringt durch die Leitung zu mir. »Sie sind alle da drin«, murmelt er schließlich.
»Was?« Ich presse das Telefon fest ans Ohr.
»Die ganzen Kids. Die verschwunden sind. Ich hab sie gespürt, die sind alle in seinen Kopf gequetscht. Es waren so
viele. Ich hab sie reden gehört, alle durcheinander. Hast du nichts gehört?«
»Doch.«
»Ray Dyson war auch da. Ich hab seine Stimme erkannt. Er glaubt, er hätte sich verirrt, hat immer wieder gefragt, wo es denn rausgeht. Aber keiner hörte ihm zu, die haben alle nur durcheinandergeredet.«
Ich kauere auf meinem Stuhl und starre matt zu dem Poster über meinem Bett hin. Die Pferde, die vor hundert Jahren Eisblöcke vom See gezogen haben. Ein Jahrhundert ist für die Bestie gar nichts. Sie hat schon vor tausend Jahren Cree-Indianer gejagt. Tausend Jahre voller Opfer. Voller Stimmen.
»Wie hieß das in den Legenden der Indianer?«, sage ich. »Dass es Seelen stiehlt.«
»Und Träume auffrisst.«
»Wie bist du rausgekommen? Wie bist du wieder aufgewacht?«
»Als es angefangen hat, dich... aufzufressen, bin ich durchgedreht, komplett. Schätze mal, der Schock war groß genug, um mich da rauszuholen.«
Ein winterlicher Wind fegt durchs Fenster herein, leckt an meinen nackten Füßen. Fühlt sich gut an. Zu gut.
»Warum hat es uns nicht erledigt?«, frage ich. »Ich meine, wir können doch eh nichts dagegen tun. Aber es spielt immer nur mit uns. Diese Albträume sind für dieses Monster doch bloß feuchte Träume, an denen es sich aufgeilt. Wieso bringt es uns nicht einfach um und fertig?«
Seit dem ersten Albtraum damals, dem von der Autopsie, hab ich das Gefühl, dass die Bestie unser Gehirn seziert. Immer
wieder die Stellen auslotet, an denen es besonders wehtut. Sich an unserer Angst weidet.
»Darüber hab ich mir auch schon viele Gedanken gemacht«, sagt Howie. »Bei Ray und den anderen verschwundenen Teenagern waren es rund zwei Wochen zwischen dem Gebissenwerden und dem Verschwinden. Vielleicht braucht das Zeug, mit dem die Bestie uns infiziert hat, eben seine Zeit, um zu wirken. Um uns zu... verwandeln.«
Jetzt wo Howie wieder in seinen wissenschaftlichen Slang verfallen kann, klingt er wieder gefasster.
»Verwandeln in was? In menschliche Eiswürfel?«
»Keine Ahnung. Das hab ich noch nicht raus. Was auch immer da in uns vorgeht - ich glaube, wir sind noch nicht bereit .«
Bereit wofür?
»Da ist noch was«, fährt Howie fort. »Ich war schon in seinem Kopf, lange bevor er hinter dir her war. Und da konnte ich sehen, wohin es geht. Glaube ich.«
»Was meinst du damit?«
»Ich hab gesehen, wohin es sich tagsüber verkriecht«, sagt er. »Und im Sommer vermutlich auch. Ich hab sein Versteck gesehen. Und ich kann es wiederfinden. Wir können es wiederfinden.«
»Hä? Wozu das denn?«
Das klingt so gar nicht nach Howie. Der Junge ist doch schon völlig fertig, wenn nur das Telefon klingelt. Und jetzt will er dieses Killermonster aufspüren?
»Was sollen wir denn sonst machen?«, sagt er. »Einfach abwarten? Das hat Ray getan - und was hat’s ihm gebracht?«
Ich kann nur den Kopf schütteln. Wenn Howies Berechnungen stimmen, hab ich vielleicht noch vier Tage. Und bei Howie scheint die Infektion noch schneller voranzuschreiten als bei mir.
»Wir müssen was unternehmen«, sagt er beinahe flehentlich. »Wir können
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