Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
Zivilpatrouille in Huehuetenango.
Das System der Zivilpatrouillen war dem gesamten ländlichen Guatemala aufgezwungen worden. Die Teilnahme war Pflicht. Männer verloren Arbeitstage. Familien verloren Geld. Die Patrouillen installierten ein neues System von Regeln und Werten, in dem Waffen und Gewalt dominierten. Das System zerstörte traditionelle Autoritätsstrukturen und sprengte das Gemeinschaftsleben der Maya-Bauern.
Ryan nahm eine Kassette aus dem Gerät, legte eine andere ein. Ich hörte Nordsterns Stimme, dann meine eigene.
Ich blätterte weiter durch die Fotos. Ein alter Mann, der wegen Morddrohungen durch die Zivilpatrouille gezwungen war, sein Haus in Chunimá zu verlassen. Eine Maya-Frau mit einem Baby auf dem Rücken und Tränen auf den Wangen.
Ich blätterte um. Angehörige einer Zivilpatrouille in Chunimá, die Waffen erhoben, hinter ihnen dunstige Berge. Die Bildunterschrift erklärte, dass der frühere Anführer der Gruppe zwei Männer des Dorfes erschossen hatte, weil sie sich weigerten, in der »Freiwilligen«-Patrouille zu dienen.
Ich starrte die jungen Männer auf dem Foto an. Sie hätten ein Fußballteam sein können. Eine Pfadfindergruppe. Ein Schulchor.
Ich hörte, wie eine mechanische Version meiner Stimme anfing, das Massaker in Chupan Ya zu erklären.
»Im August 1982 drangen Soldaten in das Dorf ein –«
Eine Zivilpatrouille hatte die Armee in Chupan Ya unterstützt. Gemeinsam hatten Soldaten und Zivilisten die Frauen und Mädchen vergewaltigt, sie dann erschossen oder mit Macheten erschlagen und ihre Häuser angezündet.
Ich blätterte um.
Xaxaxak, ein Viertel in Sololá. Männer einer Zivilpatrouille paradierten, die automatischen Gewehre quer vor der Brust. Soldaten schauten zu, einige in Kampfanzügen, andere in Uniformen, die auf einen viel höheren Rang hindeuteten.
Nordstern hatte den Namen eingekreist. Mein Blick fiel in dem Augenblick darauf, als Nordstern ihn nannte.
»Unter dem Kommando von Alejandro Bastos.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Fahren Sie fort.«
»Sie scheinen mehr zu wissen als ich.« Rascheln. » Es wird langsam spät, Mr. Nordstern. Ich habe noch zu arbeiten.«
»Chupan Ya oder der Faultank?«
»Stopp. Spiel das noch mal ab.«
Ryan drückte auf Rückspulen und spielte das Ende des Interviews noch einmal.
»Schau dir das an.«
Ich drehte ihm das Buch zu.
Ryan betrachtete das Foto, las die Überschrift.
»Alejandro Bastos war der Kommandeur des örtlichen Armeepostens.«
»Nordstern beschuldigte Bastos, für Chupan Ya verantwortlich zu sein«, sagte ich.
»Was meinst du, warum Nordstern den Scheißer neben ihm eingekreist hat?«
Ryan gab mir das Buch zurück, und ich betrachtete das eingekreiste Gesicht.
»Jesus Christus.«
26
»Das ist Antonio Díaz.« Obwohl die Brille nicht pink war, hatte ich nicht den geringsten Zweifel.
»Und wer ist das?«
»Der Bezirksstaatsanwalt aus der Hölle.«
»Der Typ, der Patricia Eduardos Skelett konfisziert hat?«
»Ja.«
Ryan griff nach dem Buch. Ich gab es ihm.
»Díaz war in der Armee.«
»Offensichtlich.«
»Mit Bastos.«
»Ein Bild ist tausend chalupas wert.«
»Der Typ, den Nordstern beschuldigte, in Chupan Ya der Anführer gewesen zu sein?«
»Du hast das Band ja gehört.«
»Wer ist Alejandro Bastos?«
»Keine Ahnung.«
Ryan stand auf.
»Setz dich, Junge.«
Er ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.
»Díaz diente mit Bastos. Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«
Genau das fragte ich mich selbst. Kehrten wir jetzt zurück zu Chupan Ya? Ging es nur darum, dass Díaz früher in der Armee und jetzt Richter war? Wollte Nordstern darauf hinaus? Das war nichts Ungewöhnliches. Galiano hatte mir das alles bei unserer Unterhaltung im Gucumatz erläutert. Im guatemaltekischen Rechtssystem wimmelt es von Folterern und Mördern. Jeder weiß das. Das wäre nichts Neues. Gab es eine Verbindung mit dem Paraíso? Antworten kamen mir keine in den Sinn.
»Vielleicht nichts«, sagte ich, glaubte es aber selbst nicht.
»Vielleicht aber doch etwas!«
»Vielleicht hatte Díaz seine Gründe, warum er mich im Eduardo-Fall nicht dabeihaben wollte.«
»Zum Beispiel?«
»Vielleicht dachte er, die Leiche im Paraíso-Tank wäre jemand anders.«
»Wer?«
»Jemand, der mit Chupan Ya zu tun hatte.«
»Ein schwangeres Teenager-Mädchen?«
Da hatte er Recht.
»Vielleicht wollte Díaz mich von der Chupan-Ya-Untersuchung ablenken.«
»Warum?«
»Vielleicht fürchtete er Enthüllungen über seine
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