Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
ein Erdbeben, der Weltmarkt. In der Gegend war ein Bus in einen Abgrund gestürzt, siebzehn Tote, eine ganze Reihe Verletzte im Krankenhaus.
Es brachte alles nichts. Meine Gedanken sprangen von einem Faultank zu einer Intensivstation zu einem Brunnen und wieder zurück.
Ich stellte mir den Schädel vor, der von menschlichen Exkrementen triefte. Warum hatte ich ihn nicht gründlicher untersucht? Warum ließ ich mich von Leuten dazu nötigen, etwas zu unterlassen, von dem ich wusste, dass es getan werden musste?
Ich stellte mir Molly vor, wie sie mit Schläuchen in Nase, Mund und Arm dalag.
Mein seelisches Gleichgewicht brach schließlich völlig zusammen, als ich mein Handy ins Ladegerät steckte.
Birdie in Charlotte schlief jetzt wohl fest. Katy in Charlottesville lernte wahrscheinlich für ihr Examen. Oder feierte mit Freunden eine Party. Oder wusch sich die Haare.
Mir wurde plötzlich flau im Magen.
Meine Tochter war einen Kontinent entfernt, und ich hatte keine Ahnung, was sie tat.
Jetzt sei nicht so wehleidig. Du bist doch nicht das erste Mal allein.
Ich schaltete Fernseher und Licht aus und kroch unter die Decke.
In Montreal war es kurz vor Mitternacht. Ryan war wohl …
Was?
Ich hatte keine Ahnung, was Ryan jetzt tat.
Lieutenant-détective Andrew Ryan, Section des Crimes Contre la Personne, Sûreté du Québec. Groß und zerfurcht, aber alle Furchen an den richtigen Stellen. Augen blauer als eine Lagune auf den Bahamas.
Mein Magen machte einen komischen kleinen Satz.
Aber nicht vor Übelkeit.
Ryan bearbeitete Mordfälle für die Provinzpolizei, und seit einem Jahrzehnt kreuzten sich immer wieder unsere Wege, wenn wir gemeinsam an unnatürlichen Todesfällen arbeiteten. Immer mit der gehörigen professionellen Distanz. Doch dann, vor zwei Jahren, ging meine Ehe in die Brüche, und Ryan richtete seinen legendären Charme auf mich.
Würde ich sagen, dass unsere Geschichte seitdem steinig war, könnte ich ebenso gut sagen, Atlantis hatte ein Wasserproblem.
Als plötzlicher Single nach zwanzig Jahren Ehe hatte ich wenig Ahnung vom Spiel der Geschlechter und nur eine Maxime: keine Büroromanze. Ryan ignorierte sie einfach.
Ich war zwar in Versuchung, hielt ihn aber trotzdem auf Armeslänge, zum Teil, weil wir miteinander arbeiteten, zum Teil aber auch wegen seines Rufs. Ich kannte Ryans Vergangenheit als wilder Junge, der Polizist geworden war, und seine Gegenwart als Platzhirsch des Reviers. Beide Persönlichkeiten waren mehr, als ich mir aufhalsen wollte.
Aber Detective Schwerenöter ließ nie locker, und vor einem Jahr konnte er mich zu einem Abendessen beim Chinesen überreden. Doch bevor es dazu kam, verschwand Ryan im Rahmen einer verdeckten Ermittlung von der Bildfläche und tauchte erst viele Monate später wieder auf.
Im letzten Herbst, nach einer Offenbarung bezüglich meines ehemaligen Gatten, beschloss ich, Ryan noch einmal in Betracht zu ziehen. Ich war zwar noch vorsichtig, fand Ryan aber sehr zuvorkommend, lustig und einen der lästigsten Männer, die mir je begegnet waren.
Und einen der erotischsten.
Stopp.
Dieser Läufer kniete zwar noch in den Startblöcken, aber die Pistole war geladen und schussbereit.
Ich warf einen Blick auf mein Telefon. In Sekunden könnte ich schon mit Ryan reden.
Etwas in meinem Hirn sagte: Keine gute Idee.
Warum nicht?
Es würde aussehen, als wärst du ein schwaches Weib, sagte das Etwas.
Na und?
Es würde aussehen, als wärst du eine Schmonzettenheldin auf der Suche nach einer Schulter, an der sie sich ausweinen kann.
Es würde aussehen, als würde ich ihn vermissen.
Mach doch, was du willst.
»Ach, was soll’s«, sagte ich laut.
Ich warf die Decke zurück, griff zum Telefon und drückte die Taste fünf der Wählautomatik.
Hundert Meilen nördlich des neunundvierzigsten Breitengrads klingelte das Telefon.
Und klingelte.
Und klingelte.
Ich wollte eben wieder auflegen, als der Anrufbeantworter ansprang. Ryans Stimme bat auf Französisch und dann auf Englisch um eine Nachricht.
Zufrieden?, höhnte das Etwas im Hirn.
Mein Daumen wanderte Richtung »Auflegen«, zögerte aber.
Was soll’s.
»Hi. Tempe hier –«
» Bonsoir, Madame la Docteure «, warf Ryans Stimme dazwischen.
»Habe ich dich geweckt?«
»Ich höre mir alle Anrufe zuerst auf dem Band an.«
»Ach so?«
»Cruise und Kidman haben sich getrennt. Früher oder später ruft Nicole sicher an.«
»Hättest du wohl gern, Ryan.«
»Wie läuft’s in den Sümpfen?«
»Wir
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