Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
schloss sich seine Hand um meinen Oberarm.
»Also gut. Aber nichts verlässt dieses Zimmer.«
»Normalerweise präsentiere ich meine Fälle in einem Chat-Room und hole mir verschiedene Meinungen ein.«
Er ließ meinen Arm los und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Die Guernsey-Augen bohrten sich in meine.
»Vor achtzehn Monaten wurde Chantale Specter wegen Kokainbesitzes verhaftet.«
»Eigenbedarf?«
»Das war unklar. Sie plauderte und wurde ohne Test wieder freigelassen. Aber ihre Kumpel waren positiv.«
»Hat sie gedealt?«
»Wahrscheinlich nicht. Im letzten Sommer wurde sie wieder verhaftet. Gleiche Geschichte. Die Polizei stürmte eine Drogenparty in einem billigen Hotel. Chantale war dabei. Kurz darauf schickte Papa sie zu einer Entziehungskur – dieser Aufenthalt in Kanada. An Weihnachten kam sie zurück, fing im Januar mit der Schule an, verschwand eine Woche später. Der Botschafter suchte sie zuerst auf eigene Faust, gab dann auf und meldete sie als vermisst.«
Sein Finger wanderte zu dem Straßengewirr, das den alten Teil der Stadt bildete.
»Beide Verhaftungen Chantales fanden in Zone eins statt.«
»Manche Jugendliche machen eben eine rebellische Phase durch«, sagte ich. »Sie kam wahrscheinlich nach Hause zurück, legte sich mit Daddy an und riss aus.«
»Vier Monate lang.«
»Ist wahrscheinlich ein Zufall. Chantale passt nicht ins Muster.«
»Lucy Gerardi verschwand am fünften Januar. Zehn Tage später war es dann Chantale Specter.«
Galiano drehte sich zu mir um.
»Nach einigen Zeugenaussagen waren Lucy und Chantale enge Freundinnen.«
6
Tatortfotos bieten einen billigen Einblick in die Geheimnisse anderer. Im Gegensatz zu künstlerischen Fotos, bei denen Licht und Gegenstände ausgewählt oder positioniert werden, um Augenblicke der Schönheit darzustellen, zeigen Tatortfotos die nackte, ungeschönte Wirklichkeit in grellem Detail. Sie zu betrachten ist eine erschütternde und entmutigende Aufgabe.
Ein zerbrochenes Fenster. Eine blutbespritzte Küche. Eine Frau, flach hingestreckt auf einem Bett, einen zerrissenen Slip über dem Gesicht. Der aufgeblähte Körper eines Kindes in einem Kofferraum. Grauen, das man Augenblicke, Stunde oder Tage später noch einmal sieht.
Oder sogar Monate später.
Um neun Uhr vierzig brachte Xicay die Paraíso-Fotos. Da ich keine Knochen zur Untersuchung hatte, waren diese Aufnahmen meine einzige Hoffnung, ein präzises Opferprofil zu erstellen und vielleicht eine Verbindung zwischen dem Skelett im Faultank und einem der vermissten Mädchen herzustellen.
Ängstlich, aber auch neugierig darauf, wie viele anatomische Details dargestellt waren, öffnete ich den ersten Umschlag.
Die Gasse.
Das Paraíso.
Die vergammelte kleine Oase im Hinterhof.
Ich betrachtete mehrere Aufnahmen des Faultanks vor und nach dem Abnehmen der Deckel, vor, während und nach dem Entleeren. Im letzten Foto fielen Schatten über die leeren Kammern wie lange knochige Finger.
Ich legte den ersten Stapel weg und griff zum nächsten Umschlag.
Das erste Foto zeigte meinen Hintern, den ich am Tankrand himmelwärts streckte. Das zweite zeigte einen Unterarmknochen, der auf einem Laken in einem Leichensack lag. Trotz Lupe konnte ich keine Details erkennen. Ich legte das Glas weg und machte weiter.
Nach sieben weiteren Fotos fand ich eine Großaufnahme der Elle. Ich bewegte die Lupe über den Schaft und studierte jeden Höcker und jeden Grat. Ich wollte schon aufgeben, als ich am Handgelenksende eine haarfeine Linie entdeckte.
»Schauen Sie sich das an.«
Galiano nahm die Lupe und beugte sich über die Aufnahme. Ich deutete mit einer Kulispitze auf die entsprechende Stelle.
»Das ist der Rest einer Epiphysen-Linie.«
»Ay, Dios«, sagte er, ohne den Blick zu heben. »Und das heißt?«
»Die Wachstumszone verschmilzt noch mit dem Schaftende.«
»Und das heißt?«
»Das heißt jung.«
»Wie jung?«
»Wahrscheinlich knapp unter zwanzig.«
Er richtete sich auf.
» Muy bueno, Dr. Brennan.«
Die Schädelserie begann nach der Hälfte des dritten Stapels. Während ich Bild um Bild studierte, verkrampften sich meine Eingeweide noch heftiger als im Faultank. Xicay hatte den Schädel aus zwei Metern Entfernung fotografiert. Schlamm, Schatten und die Entfernung ließen alle Details verschwimmen. Auch die Lupe half nichts.
Entmutigt legte ich Umschlag drei beiseite und griff zum nächsten. Auf jedem Bild wurde das Skelett ein Stückchen kompletter. Verschmelzende
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