Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
schob. Die großen Kartons waren durch zwei Mülltüten und einen schwarzen Leinwandkoffer ersetzt worden.
»Wo zum Teufel hast du denn gesteckt?«
»Die Arschlöcher wollten mir ihre kostbare Lampe nicht leihen. Haben sich aufgeführt, als wären es die Kronjuwelen. Wohin willst du das Zeug?«
Galiano deutete auf zwei Klapptische an der rechten Wand. Hernández lud seine Fracht ab und stellte den Wagen dann neben den restlichen Kartons ab.
»Wenn wieder mal umgeräumt wird, dann ohne mich.« Er zog ein gelbes Tuch aus seiner Tasche und wischte sich das Gesicht. »Das verdammte Zeug ist schwer.«
Hernández stopfte sich das Taschentuch wieder in die hintere Tasche. Ich sah einen gelben Stoffzipfel aus dem Zimmer stürmen.
»Schauen wir uns die Fotos an«, sagte Galiano zu mir. »Die meisten kommen von den Familien. Eins aus der Botschaft.«
Ich folgte ihm, obwohl ich die Schnappschüsse eigentlich gar nicht zu sehen brauchte. Ich hatte schon viele Mordfälle bearbeitet und wusste genau, was mich erwartete. Gesichter: feindselig, fröhlich, verwirrt, verschlafen. Jung oder alt, männlich oder weiblich, elegant oder ungepflegt, hübsch oder unscheinbar, jede Person in einem Augenblick abgelichtet, da sie vom künftigen Unglück noch nichts wusste.
Mein erster Blick ließ mich an Ted Bundy und seine bevorzugten Opfer denken. Alle vier Frauen hatten lange, glatte Haare mit Mittelscheitel. Doch hier endete die Ähnlichkeit.
Claudia de la Alda war nicht gerade mit Schönheit gesegnet. Sie war eine knochige Frau mit breiter Nase und weit auseinander stehenden Augen, die kaum größer als Oliven waren. Auf jedem der drei Fotos trug sie einen schwarzen Rock und eine pastellfarbene Bluse, die bis zum Kinn zugeknöpft war. Ein silbernes Kruzifix hing vor ihrem mächtigen Busen.
Lucy Gerardi hatte glänzende schwarze Haare, eine zarte Nase und ein ebensolches Kinn. Ein Schulporträt zeigte sie in einem leuchtend blauen Blazer und einer gestärkten weißen Bluse. Auf einem privaten Foto trug sie ein gelbes Strandkleid und hatte einen Schnauzer auf dem Schoß. Ein goldenes Kreuz ruhte in der Kuhle unter ihrer Kehle.
Patricia Eduardo war zwar die älteste der vier, sah aber keinen Tag älter aus als fünfzehn. Ein Kodak-Augenblick zeigte sie sehr aufrecht auf einem Appaloosa-Hengst, die Augen glänzend schwarz unter dem Schirm ihrer Reitkappe, eine Hand an den Zügeln, die andere auf dem Knie. Auf einem anderen stand sie neben dem Pferd und starrte ernst ins Objektiv. Wie die anderen trug sie ein Kreuz und kein Make-up.
Während de la Alda, Gerardi und Eduardo unter dem Einfluss von Maria der Unbefleckten zu stehen schienen, sah Chantale Specter aus, als gehöre sie zur Kirche der Lüsternheit. Auf dem Polizeifoto trug die Tochter des Botschafters ein nabelfreies Tank-Top und hautenge Jeans. Ihre blonden Haare waren gesträhnt, ihr Make-up vampirhaft schwarz.
In starkem Kontrast dazu stand das offizielle Porträt aus der Botschaft. Chantale posierte zwischen Mommy und Daddy auf einer Queen-Anne-Couch. Sie trug Pumps, Strumpfhose und ein weißes Baumwollkleid. Keine Verhaftungsnummer, keine Strähnchen, keine Dracula-Augen.
Während mein Blick von Gesicht zu Gesicht wanderte, spürte ich, wie es mir in der Brust hohl wurde. War es möglich, dass alle vier Frauen tot waren? Hatten wir eine von ihnen aus dem Paraíso-Tank gezogen? Trieb sich in Guatemala City ein Psychopath herum? Plante er bereits seinen nächsten Mord? Würden noch mehr Fotos an diese Pinnwand kommen?
»Sieht nicht aus wie eine, die ihren Arsch für Drogen verkauft.« Galiano schaute sich eben das Specter-Porträt an.
»Das tut keine von denen.«
»Passt eine zu Ihrem Profil?«
»Sie passen alle. Bei Chantale Specter trifft die Rasse nicht zu, aber das ist immer problematisch. Ich würde mich sicherer fühlen, wenn ich den Schädel vermessen und die Maße durch eine Datenbank jagen könnte. Und auch dann kann das mit der Rasse noch schwierig werden.«
Hinter mir lud der große Detective Kartons auf den Wagen.
»Was ist mit dem Timing?«
Claudia de la Alda wurde im Juli zum letzten Mal lebend gesehen. Der Faultank war im August gewartet worden.
»Zum letzten Mal lebend gesehen ist nicht gleich zum letzten Mal geatmet.«
»Nein«, stimmte Galiano mir zu.
»Falls sie überhaupt tot ist.«
»Patricia Eduardo verschwand im Oktober, Gerardi und Specter im Januar.«
»Wurde eine davon in Jeans und blumengemusterter rosa Bluse zum letzten Mal
Weitere Kostenlose Bücher