Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
verwickelt waren, noch heute das Sagen beim Militär haben?«
Seine Stimme ließ eine Gänsehaut über meine Arme kriechen.
»Wussten Sie, dass viele von denen, die heute Ermittlungsarbeiten durchführen, aktiv an außergerichtlichen Exekutionen beteiligt waren oder sind?«
»Sind?«
Er sah mich unverwandt an.
»Die Polizei?«
Kein Lidschlag.
»Wie kann das sein?«
»Die Polizei untersteht zwar de jure dem Innenministerium, wird aber de facto von der Armee kontrolliert. Das gesamte Strafverfolgungssystem ist von Angst durchdrungen.«
»Wer fürchtet sich denn?«
Noch ein Blick durch den Raum. Keine Bewegung blieb unbeobachtet. Als Galiano sich wieder mir zuwandte, waren seine Gesichtszüge härter als zuvor.
»Jeder hat Angst. Kein Zeuge oder Verwandter erstattet Anzeige, niemand macht eine Aussage, weil sie alle Angst vor Vergeltung haben. Wer die Armee belastet, ob Strafverfolger oder Richter, muss sich Sorgen um seine Familie machen.«
»Werden Menschenrechtsverletzungen denn nicht von Beobachtern verfolgt?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Galiano hatte mich angesteckt.
»In Guatemala sind mehr Beobachter verschwunden oder wurden getötet als irgendwo sonst auf diesem Planeten. Das ist nicht meine Behauptung, das ist offiziell.«
Ich hatte das erst vor kurzem in einer Veröffentlichung der Human Rights Watch gelesen.
»Und wir reden hier nicht von uralter Geschichte. Bis auf vier wurden alle diese Morde seit Einsetzung der Zivilregierung sechsundachtzig begangen.«
Ich spürte ein Kribbeln der Angst in meiner Magengrube.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Die Untersuchung eines Mordfalls ist hier nicht gerade ein Sonntagsspaziergang.« Seine Augen waren voller Bitterkeit. »Schreibe einen Autopsiebefund oder einen Polizeibericht, der auf die falschen Leute hindeutet, und dein Leben macht keinen Spaß mehr. Solche Ergebnisse vorzulegen kann gefährlich sein, wenn der Empfänger des Berichts zufällig mit den bösen Jungs in Verbindung steht, und das kann er auch dann sein, wenn er für die Justiz arbeitet.«
»Soll heißen?«
Er öffnete den Mund, schlug dann aber die Augen nieder.
Aus dem Kribbeln wurde ein kalter, harter Knoten.
9
Es war mein Tag der Blumen. Als ich wieder in mein Zimmer kam, fand ich dort einen Strauß von der Größe eines VW-Käfers. Die Karte war typisch Ryan.
Danke für die Erinnerungen.
Schönes Knochenende,
AR
Ich lachte zum ersten Mal seit über einer Woche.
Nach dem Duschen musterte ich mich im Spiegel, fast wie einen Fremden auf der Straße. Was ich sah, war eine Frau mittleren Alters mit zarter Nase und feinen Wangenknochen, ein paar winzigen Krähenfüßen an den Augenwinkeln, aber noch fester Kinnpartie. Eine Windpockennarbe über der linken Braue. Asymmetrische Grübchen.
Ich wischte mir den Pony aus der Stirn und steckte ihn mir mit beiden Händen hinter die Ohren. Die Haare waren sehr fein, ehemals blond und jetzt braun, das sich rasant in Grau verwandelte. Ich hatte meine jüngere Schwester Harry immer um ihre dichten blonden Haare beneidet. Sie hatte ihr Leben lang keine Gedanken an Sprays und Volumengels verschwendet, während ich tausende allein für Schaumfestiger ausgegeben hatte.
Einen Augenblick lang starrte ich mich direkt an. Müde grüne Augen starrten zurück, unterlegt mit blassem Violett. Eine neue Furche lief am inneren Rand meiner linken Augenbraue entlang. Beleuchtung? Ich drehte mich ein Stück nach links, trat einen halben Schritt zurück. Die Falte war echt. Toll. Eine Woche in Guatemala und ein Jahrzehnt gealtert.
Oder war es Besorgnis über Galianos Warnung? War es überhaupt eine Warnung? Ich drückte Zahnpasta auf die Bürste und fing mit den oberen Backenzähnen an.
Was war der eigentliche Zweck der Unterhaltung im Gucumatz? Nur ein Hinweis, auf der Hut zu sein? Darauf zu achten, wohin ich ging und mit wem? Auf dem Rückweg hatten wir vorwiegend über den Faultankfall gesprochen. Galiano hatte nur wenig zu berichten.
Ein Besuch in der Familienplanungs- oder APROFAM-Klinik in der Zone eins hatte nichts erbracht. Dasselbe in einer privaten Klinik, Mujeres por Mujeres. Die dortige Dienst habende Ärztin hatte sich widerstrebend bereit erklärt, ihre Patientendateien durchzusehen. Sie hatte zwei Eduardos gefunden, Margarita und Clara, beide in den Dreißigern. Keine Lucy Gerardi, Claudia de la Alda oder Chantale Specter. Falls eine der vermissten Frauen dort einen Termin vereinbart hatte oder von einem Arzt
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