Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
fünfundvierzig. Ich musste mich beeilen.
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Außerhalb des SQ fühlte die Luft sich schwer und feucht an. Eine Brise vom St. Lawrence her brachte kaum Linderung. Der Brauereigestank hatte sich verflüchtigt, dafür war jetzt der Geruch des Flusses stark. Während ich zum Auto ging, kreischte über mir eine Möwe, entweder um gegen diese frühzeitigen Abstecher des Sommers zu protestieren oder um ihn zu feiern.
Die Polizeistrukturen in Quebec sind kompliziert. Die SQ ist zuständig für alle Teile der Provinz, die nicht unter die Gerichtsbarkeit städtischer Einheiten fallen. Die Insel selbst wird von der Police de la Communauté Urbaine de Montréal, auch CUM genannt, geschützt.
Die CUM unterteilt sich in vier Abteilungen: die Sektionen Nord, Süd, Ost und West. Nicht sehr kreativ, aber geografisch korrekt. Jede Sektion hat eine Zentrale mit Ermittlungs-, Interventions- und Analyseabteilungen. Jede beherbergt außerdem einen Arrestbereich.
Verdächtige, die wegen Verbrechen außer Mord oder Vergewaltigung verhaftet werden, warten in einem der vier Sektionsgefängnisse auf die Anklageerhebung. Wegen des Ladendiebstahls im MusiGo im Le Faubourg waren Chantale Specter und Lucy Gerardi in die Sektion Süd gebracht worden.
Sektion Süd, zu der auch mein Viertel gehört, ist ein äußerst vielschichtiges Stück urbaner Geografie. Obwohl vorwiegend Französisch und Englisch gesprochen wird, hört man auch Griechisch, Italienisch, Libanesisch, Chinesisch, Spanisch, Parsi und ein Dutzend andere Dialekte. In dem Viertel liegen die McGill Universität und Wanda’s Strip Club, das Sun Life Building und Hurley’s Pub, die Cathédrale Marie-Reine-du-Monde und der Kondomladen an der Crescent Street.
Die Sektion Süd ist Heimat für Separatisten und Föderalisten, Drogendealer und Banker, wohlhabende Witwen und mittellose Studenten. Es ist ein Spielplatz für Eishockey-Fans und für Singles auf der Pirsch, ein Arbeitsplatz für vorstädtische Pendler und ein Schlafzimmer für Obdachlose, die aus braunen Tüten trinken und auf Bürgersteigen schlafen. Im Laufe der Jahre war ich an zahlreichen Mordermittlungen beteiligt, die in dieser Sektion begonnen hatten.
In Umkehrung meiner morgendlichen Route fuhr ich nun Richtung Westen durch den Tunnel, nahm die Axwater-Ausfahrt, schoss auf der St. Marc nach Norden, bog rechts in die St. Catherine ein und dann wieder rechts in die Guy. Einmal war ich nur Meter von meinem Zuhause entfernt, und lieber hätte ich diese Abkürzung genommen, als weiterzufahren zu meinem geplanten Rendezvous.
Im Auto dachte ich an die Eltern von Chantale und Lucy. Señor Gerardi, arrogant und herrisch. Seine verschüchterte Frau. Mrs. Specter mit gefärbten Augen und lackierten Nägeln. Der abwesende Mr. Specter. Sie waren die Glücklichen. Ihre Töchter waren am Leben.
Ich stellte mir Señora Eduardo vor, die sich noch immer verzweifelt fragte, was mit ihrer Tochter passiert war. Und die de la Aldas, die über Claudias Tod trauerten und sich vielleicht Vorwürfe machten, dass sie ihn nicht hatten verhindern können.
Ich fuhr auf den Parkplatz und stellte mich zwischen zwei Streifenwagen. Claude lehnte am Specterschen Mercedes, die Füße übereinander geschlagen, die Arme verschränkt. Er nickte, als ich vorbeiging.
Ich betrat das Revier durch den Haupteingang, ging zum Empfang, zeigte meinen Ausweis und nannte den Grund meines Besuchs. Die Beamtin studierte das Foto, verglich es mit meinem Gesicht und fuhr dann mit dem Finger eine Liste entlang. Als sie meinen Namen gefunden hatte, hob sie wieder den Kopf.
»Der Anwalt und die Mutter sind schon drin. Lassen Sie Ihre Sachen hier.«
Ich nahm die Handtasche von der Schulter und schob sie über die Theke. Sie steckte sie in ein Schließfach, schrieb etwas in ein Buch und drehte es dann mir zu.
Während ich Uhrzeit und Namen eintrug, griff sie zum Telefon und sagte ein paar Worte. Augenblicke später kam ein Wachposten durch die grüne Metalltür zu meiner Linken. Er tastete mich mit einem Metalldetektor ab und bedeutete mir dann, ihm zu folgen. Während er mich einen neonbeleuchteten Korridor entlangführte, folgten Videokameras unseren Bewegungen.
Die Ausnüchterungszelle lag direkt vor uns, ihre Insassen lungerten herum, schliefen oder klammerten sich an die Gitterstangen. Dahinter eine weitere grüne Metalltür. Hinter dieser Tür der eigentliche Zellenblock. Der Ausnüchterungszelle gegenüber eine Theke. Hinter der Theke eine Wand aus
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