Knochenzeichen
einer erstklassigen Agentur angenommen wurdest. Es hat Geld gekostet, dich ins Rampenlicht zu rücken.« Sie machte eine abschätzige Geste, die typisch für sie war. »Du hast keine Kinder, Caitlin, daher kannst du nicht wissen, wie es einer Mutter manchmal wehtun kann, wenn sie ihr Kind zwingen muss, das Richtige zu tun.« Benommen sah Cait zu, wie ihre Mutter unbeirrbar auf die Stelle drückte, durch die die Unterseite des Kästchens aufgehen würde. »Aber jetzt musst du …«
Lydia schnappte nach Luft, als sie sah, dass das Fach leer war. »Was … wo ist sie?« Wütend blitzten ihre Augen auf, während sie sich erhob und sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete. »Was hast du getan, Caitlin?«
»Die Pistole liegt auf dem Grund des Canal Grande in Venedig.« Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren hölzern und fremd. Bereits als Teenager hatte sie begriffen, dass sie die Verbindung zu ihrer Vergangenheit zerstören musste. »Aber das macht nichts, Mutter.« Sie stand auf und nahm Lydia das Kästchen aus der Hand. »Das brauchen wir nicht. Du hast recht. Morgen früh fliegen wir nach Paris.«
»Wunderbar.« Mit strahlender Miene begleitete Lydia sie lammfromm zur Tür hinaus. Durch den Flur. »Hast du das grünseidene Valentino-Kleid noch? Das musst du tragen, wenn du dich mit den Leuten von Duran Cosmetics triffst. Darin hast du immer am besten ausgesehen.«
Die Vordertür hinaus. Über den Parkplatz zu Caits SUV. »Ich erinnere mich.« Sie war fünfzehn gewesen, als sie das besagte Kleid zum letzten Mal getragen hatte. In einem anderen Leben. »Wir können beim Frühstück Pläne schmieden.«
»Eine hervorragende Idee. Ich wusste ja, dass du Vernunft annehmen würdest. Ach, lass uns doch in dieses kleine Bistro auf den Champs-Elysées gehen. Wie hieß es noch? Das mit den fantastischen Crêpes?«
»Das Athénée.«
»Selbstverständlich wirst du dir nur einen Joghurt bestellen. Du musst mindestens sechs Kilo abnehmen, ehe du dich wieder vor eine Kamera begibst.« Lydia stieg in den Wagen. Legte den Sicherheitsgurt an. »Und sei vorsichtig, Schätzchen. Du bist es nicht gewohnt, auf der rechten Straßenseite zu fahren.«
Mit brennenden Augen ließ Cait den Wagen an. »Ich komme schon klar, Mutter. Wir kommen beide bestens klar.«
Kristy sah sie mit verständnisvoller Miene an. »Oh mein Gott. Und was hast du dann gemacht?«
Cait fuhr sich unsanft durchs Haar und brachte die sorgfältig bereinigte Version zu Ende, die sie ihrer Assistentin vorgetragen hatte. »Sie in eine psychiatrische Klinik gebracht. Und dann habe ich zwei Stunden lang den Mann zu erreichen versucht, mit dem sie bis zuletzt zusammen war. Den, von dem sie mir gestern erzählt hat, er hätte sie gerade verlassen. Und ich erfahre, dass sie sich schon vor einem halben Jahr getrennt haben. Sie waren auch nicht gerade erst aus Paris zurückgekommen, wie sie es mir erzählt hat. Er musste mir erst die Adresse ihrer aktuellen Wohnung geben.«
Diese Tatsache sollte ihr noch lange nachgehen.
»Das konntest du nicht wissen.« Kristy war voll und ganz auf ihrer Seite. »Es klingt, als sei sie ganz plötzlich übergeschnappt. Das konnte man unmöglich vorhersehen.«
Cait dachte daran, was ihre Mutter über ihrer beider Vergangenheit enthüllt hatte. Und wünschte, sie könnte dieses Wissen wieder löschen. So schrecklich es gewesen war, die Geheimnisse ihrer Kindheit mit sich herumzuschleppen, irgendwie war dieses Wissen noch schlimmer. Viel schlimmer. »Ich glaube, es hat sich schon eine ganze Zeitlang angebahnt.«
»Ruf doch mal Andrews an.« Kristy stand auf und brachte Cait die Handtasche, die sie auf dem Tisch in der Ecke abgestellt hatte. »Sag ihr, du nimmst deine Arbeit morgen wieder auf. Mein Gott, Cait, sie kann nicht erwarten, dass du heute arbeitest, nach dem, was du durchgemacht hast.«
Ohne nach dem Telefon zu greifen, erwiderte sie: »Ich habe sie bereits angerufen und ihr gesagt, dass ich später komme.« Sie hielt eine Hand in die Höhe, um Kristys Proteste im Keim zu ersticken, und sprach weiter. »Lydias Ärzte haben mich rausgeworfen, nachdem ich ihnen alles, was ich wusste, über ihre medizinische Vorgeschichte erzählt hatte.« Einen Teil aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit hatte sie ihnen allerdings dennoch vorenthalten. Nicht weil sie Angst vor den Konsequenzen für die Handlungen einer Achtjährigen gehabt hätte. Sondern für die Handlungen ihrer Mutter. »Sie sollen eine Diagnose stellen, und dann suche ich eine
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