Knochenzeichen
Umgebung. Walterville, Vida, Nimrod, Blue River, McKenzie … Jemand muss ziemlich lange hier gelebt haben, um die Gegend so gut zu kennen wie dieser Typ. Ich lebe schon immer hier und wusste ewig nichts von der Höhle. Vielleicht ist er von hier weggezogen, nachdem er seine Kindheit hier verbracht hat, aber ich bezweifle, dass er weit weggezogen ist. Es sei denn … Sie glauben doch nicht, dass die ganzen Knochen alle auf einmal dort abgelegt worden sind, oder?«
Sie holte zu ihm auf und versuchte, ebenso leicht mit dem Fluss seiner Gedanken Schritt zu halten. »Nein.«
»Dann ist er also mehrmals dorthin marschiert. Wahrscheinlich nachts. Er könnte auch irgendwo hier kampiert haben. Hat die Knochen mitgebracht und ist dann in der Nacht losgezogen, um sie dort zu deponieren. Aber Campingplätze bedeuten Leute, und das wäre ein Risiko. Nein, wahrscheinlich ist er allein gekommen und wieder gegangen. Wie weit würde er wohl fahren, um die Knochen loszuwerden? Nicht weit, würde ich schätzen. Nicht länger als zwei Stunden. Er kann es nicht riskieren, angehalten und mit menschlichen Skeletten im Wagen erwischt zu werden.«
So fasziniert lauschte sie seinen Ausführungen, dass sie beinahe von einem tiefhängenden Ast einen Schlag gegen den Kopf bekommen hätte, den er losgelassen hatte, nachdem er ihm ausgewichen war. Jedenfalls verfingen sich die Zweige in ihrem Haar, und sie musste stehen bleiben, um sich zu befreien. »Zuerst sagen Sie, er lebt hier, und dann sagen Sie, er lebt zwei Stunden weit weg. Was denn nun?«
Er wandte sich um und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu, doch als er ihre Notlage erkannte, gab er nach. Rasch machte er kehrt und fegte ihre Hände beiseite. »Sie machen alles nur noch schlimmer. Lassen Sie mich mal.«
Seine Hände waren schnell und verblüffend sanft, als er die Strähnen aus den Zweigen löste, doch in seiner Miene war keine Spur von Sanftmut zu erkennen, als er sie losließ und von ihr wegtrat. »Setzen Sie Ihren Hut auf«, blaffte er sie an. Während sie im Rucksack danach kramte, wechselte er nahtlos das Thema. »Ich habe lediglich gesagt, dass er irgendwann mal hier gelebt haben muss. Ich finde aber auch, wir müssen nicht unbedingt davon ausgehen, dass der Killer ein Mann ist. Die Müllsäcke waren nicht besonders schwer. Eine Frau, die trainiert ist, jemand wie Sie, könnte den Aufstieg zum Castle Rock wahrscheinlich mit einem solchen Sack bewältigen. Aber wer auch immer es war, er kennt sich hier aus. So gut wie ich. So gut wie Jim Lancombe, der Landschaftspfleger vom Springs Resort. Er ist mit jedem Quadratmeter hier vertraut, genau wie ich. Was in meinen Augen die Benutzung der Höhle als Ablageort noch schlimmer macht.«
Das war vermutlich der längste Monolog, den sie ihn je hatte halten hören. Auf jeden Fall war es der leidenschaftlichste. »Warum?« Da er sich umgewandt hatte und erneut weitergegangen war, setzte auch sie sich wieder in Bewegung. Doch sie wollte und brauchte die Antwort auf ihre Frage. »Warum macht es das noch schlimmer?«
Minuten verstrichen. So viel Zeit, dass sie schon glaubte, er werde nicht antworten. Doch schließlich sagte er: »Weil es mir wie eine Art Entweihung vorkommt. Das hier ist einer der wenigen wirklich friedlichen Orte, die ich auf dieser Welt gefunden habe.« Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen.«
Doch sie glaubte es zu verstehen. Zumindest ein bisschen. Sie selbst ging mindestens einmal im Monat in die Berge und Wälder Virginias, wenn ihr Beruf es zuließ. In die dortige Ruhe der Natur einzutauchen linderte jeden Stress.
Sie machte sich keine Illusionen über die Art von Einsätzen, an denen er in Afghanistan teilgenommen hatte. Darüber, was all die Auszeichnungen und Medaillen ihn gekostet haben mussten.
Ein Mann wie er, so sinnierte sie, während sie eilig zu ihm aufschloss, brauchte bestimmt dringend Ruhe und Frieden.
12. Kapitel
Sheriff Marin Andrews ging in Caits Motelzimmer im McKenzie auf und ab und zog immer wieder hektisch an einer Zigarette. »Und dieser Detective … Drecker – der verdächtigt Recinos’ Ex?«
»Ja, aber falls sich Marissa Recinos als unsere Person weiblich C entpuppt, muss sich Drecker irren. Ihr Ex hatte mit Sicherheit kein Motiv, um alle sieben Opfer umzubringen.«
»Wie weit sind Sie mit dem Täterprofil gekommen?«
Sheriff Andrews war so aufgeregt, wie Cait sie noch nie erlebt hatte. Seit sie hier eingetroffen war, rauchte sie
Weitere Kostenlose Bücher