KNOI (German Edition)
dem Boden, und sie dachte, wenn er jetzt tot war, würde sie sein Spielzeug für immer so liegen lassen, sich dazwischen legen, nichts berühren, nur leise vor sich hin summen. Sie würde Max nicht aufgeben, sie würde die Stelle von Max einnehmen, sie würde er sein, damit er leben könne, und da hörte, nein, spürte sie seinen Atem, als würde er hinter ihrem Ohr sitzen und die Luft anhalten. Er stand am offenen Fenster. Kein Wort, sie durfte ihn nicht erschrecken. Jetzt bloß nicht Max sagen, denn das war nicht Max. Die Hausente wollte dem Schwarm folgen, das begriff sie sofort. Auch wenn er außer Reichweite war, mit keiner Bewegung den Fluchtinstinkt wecken. Und Max, der sie ansah, als wäre sie ein Wolf, und vergaß, wo er stand, und den Schritt nach vorne tat. Und Rita, die auf Max losstürzte, und Max, der kerzengerade aus dem Fenster kippte, als hätte sie ihm den Boden weggezogen, und Rita, die sein linkes Bein umklammerte. Und Max, der stolperte und zu strampeln aufhörte. Und Rita, die Max schrie. Und Max, der wie ein Kind schrie, endlich wie ein Kind schrie. Und Rita, die seinen Fuß umklammerte und juchzte, hysterisch juchzte, weil sie begriff, dass darin die Lösung lag, genau in diesem Moment. Es waren die Schreie eines Kindes, nicht die eines Tieres. In diesem Moment war er Max. Und als sie ihn hochzog, verschlug es ihm die Sprache, überhaupt jeden Laut. Denn Giraffen konnten nicht sprechen, ja, nicht einen Laut konnten Giraffen mit ihren langen Hälsen von sich geben, und in solchen Höhen, mit wem sollten sie auch groß sprechen. Und so schlief Max an diesem Abend aufrecht und schwieg über den Vorfall, über den es auch nichts zu sagen gab. Taten mussten folgen.
Rita baute Gitter vor die Fenster, ließ Max keine Sekunde allein, und alles, was nicht haltungsgerecht war, musste raus. Rita habe einen Zoo gebaut, sagte Hilde, ein Gehege, in dem sie selbst im Kreis lief. Hilde sehe die Dinge, sagte Rita, ohne sich von deren Erscheinung blenden zu lassen, sie sehe nicht den Fuchs, nicht die Katze, nicht die Gans, sie sehe den Max, den Rita und Lutz schon längst aus den Augen verloren hätten. Hilde sehe auch den Lutz hinter dem Lutz, vom ersten Abend an, als Hilde für alle Fleisch und Milch zubereitete und Lutz mit Luise Gassi schickte. Sie sehe sogar den Lutz hinter dem Lutz hinter dem Lutz, sagte Rita, das sei, als ob man einen Alibertspiegel aufklappe. Es sei eben nicht wie diese russischen Puppen, wo das Ich immer kleiner würde, bis es nicht mehr teilbar sei, sagte Rita, die genau das wahrscheinlich von Hilde gehört hatte, die das Gesagte wiederum mit diesem Lächeln kommentierte, das ihn von Beginn an rasend gemacht hatte.
Lutz war erleichtert, als er im Hof unten stand, um mit diesem fiktiven Hund Gassi zu gehen. Luise, die ihr eigenes Bett bekam, gefüttert und geimpft werden musste, wurde zum Versprechen, dass Max ein Mensch blieb. Wobei Hilde sagte, der wesentlichste Unterschied zum Tier bestehe darin, dass man als Mensch nicht Mensch bleiben müsse. Aha, sagte Lutz, ob sie damit Verkleidungen meine, ein Fuchs habe nicht das Bedürfnis, sich als Giraffe auszugeben, und umgekehrt. Möglichkeit, korrigierte Hilde, außerdem, was wüssten wir von den Wanderungen der Füchse. Sie sagte das, als würde sie deren unsichtbare Pfade kennen. Das suggerierte sie mit allem, was sie sagte: ein geheimes Wissen. Selbst wenn sie ein Päckchen Milch aus dem Kühlschrank nahm, und Hilde trank viel Milch, mindestens drei Liter pro Tag, sah es aus, als handelte es sich um ein geheimes Ritual. Bei welchem Verein sie eigentlich sei, fragte Lutz, worauf Hilde wieder dieses Lächeln aufsetzte, es machte ihn rasend, und sie wusste das und lächelte, bis ihm die Wut aus den Augen quoll, und dann sagte sie, es gebe keinen Verein. Also sei sie eine Einzelkämpferin, sagte Lutz, und dann wieder dieses Lächeln und Hilde, die sagte, sie sei weder Kämpferin noch sei sie allein, was schon daran liege, dass es sie im eigentlichen Sinn gar nicht gebe, so wie es auch Lutz nicht gebe, die Vorstellung, wir seien Inseln, die durch nichts miteinander verbunden seien, vergesse halt immer das Meer, aber auch das darunterliegende allumfassende Festland, das übersehe man gern, weil man ständig nur an die Boote denke, die man von Insel zu Insel schicke, und dann wieder dieses Lächeln und Lutz, dessen Wut zwischen Hildes Wellen ruderte, denn er sah Menschen weder als Inseln noch als Festland, er sah sie als Statisten in
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