Koala: Roman (German Edition)
die fleißigen Nervenärzte, sei eine gebürtige Wienerin gewesen und habe ein Liebesverhältnis mit einem um zwölf Jahre jüngeren Kollegen unterhalten. Sie wollten heiraten, hieß es, und sie stritten sich oft, wie auch an jenem verhängnisvollen Abend, als die Frau zweimal in das Zimmer ihres Geliebten getreten sei und eine gute Nacht gewünscht habe. Darauf habe sie sich erschossen. Ihrem Liebsten hinterließ sie die Botschaft: »Jede Frau mit der du zärtlich bist, wirst du an mich denken müssen. Gruß und ein letzter Kuss, M.«
Wie die fleißigen Nervenärzte feststellten, handelte es sich hierbei um den primitiven, fehlerhaften Stil einer Ungebildeten. Eifersucht, Ressentiment und Rachegedanken würden unverhohlen und offen ausgesprochen, sie tobe sich richtiggehend in einem Fluch aus, und ihre Labilität zeige sich außerdem darin, dass sie unmittelbar auf die Verfluchung eine ausgesprochene Zärtlichkeitsäußerung folgen lasse etc., etc.
Und da ich noch Kraft und noch immer keine Antwort hatte, blätterte ich auf Seite einundzwanzig jenes famosen Kompendiums und traf ein siebzehnjähriges Mädchen, das am vierten Todestag ihrer Mutter deren Grab besucht habe und lange fortgeblieben sei. Am frühen Morgen fand die Stiefmutter sie auf der Küchenbank, neben sich ein aufgeschlagenes Buch mit dem Titel »Durch Leiden zur Herrlichkeit«, der da genommen ist aus der Weisheit des Paulus, der uns Sünder im Römerbrief ermahnte: »Denn ich halte es dafür, dass dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden.« Wie hoffnungsvoll das Mädchen sein Köpfchen in das ausströmende Gas hielt, ließ sich nicht feststellen, davon berichteten ihre zurückgelassenen Briefe nichts. Sie schrieb nur: »Liebe Eltern! Nach langer Überlegung bin ich zum Schluss gekommen, dass es für uns alle drei das Beste ist, dass ich sterbe. Wie oft haben wir schon heftige Auseinandersetzungen gehabt meinetwegen, nach meinem Tode wird das aufhören. Ihr werdet keine Auslagen mehr haben für mich und so werdet ihr ein ruhiges, friedliches Leben haben.«
Es war nämlich so gewesen, dass man ihr verboten hatte, einen Tanzkurs zu besuchen, ein geringfügiger Anlass, wie die fleißigen Nervenärzte betonten, der bei diesem Mädchen aber große, dem Anlass nicht entsprechende Gemütsdepressionen ausgelöst habe. Ebenso wie der nicht erfüllte Wunsch, Lehrerin zu werden, den ihr die Eltern wegen ihrer schwachen Nerven versagt hatten. Was auch immer der Grund für ihren Selbstmord gewesen sein mochte, ziemlich sicher ist, dass sie sich eine letzte Umarmung ihres Vaters wünschte, bevor sie den Hahn aufdrehte. So schrieb sie nämlich im zweiten Brief, den sie im Gegensatz zum ersten, mit Tinte geschriebenen mit Bleistift verfasste: »Oh, mein Vati, wenn ich Dich noch schnell umarmen dürfte, wenn ich dir noch schnell ins Ohr flüstern dürfte.«
So erstarrte ich vor diesen angegilbten Seiten, und mir wurde nach dem Erschauern bewusst, dass es sich hier um eine Auswahl handelte. Jene fleißigen Nervenärzte dokumentierten nur jene Selbstmorde, die ihnen entweder exemplarisch oder spezifisch erschienen. Alle anderen, das heißt die meisten, schieden sie aus, jene Fälle, die gewöhnlich und belanglos waren, ganz abgesehen von der unbekannt großen Zahl, die sich umbrachte, ohne dass es jemand bemerkte. Die Auswahl warf einen Schatten auf die Wissenschaftlichkeit der Nervenärzte, und ich fragte mich, ob aus der Melodramatik der geschilderten Selbstmorde nur die ästhetischen Vorlieben der Ärzteschar zu lesen war. Jedenfalls blieben sie zur Erklärung der eigenen Situation unbrauchbar. Jedes Schicksal war tragisch, keines erhellte das meines Bruders.
Ich fand einen Begriff für jenes Gefühl, das mich seit dem Tod des Bruders gefangen hielt, und ich nannte das Gefühl Einsamkeit. Ich fand sie bald in allem, nicht nur im Leben des Bruders, in jedem Leben, in meinem eigenen, in den Leben, die ich teilte und betrachtete. Ich erkannte in der Einsamkeit den Preis und die Strafe, ich sah, wie diese Einsamkeit zunahm unter meinen Freunden. Ich erkannte darin die Krankheit meiner Zeit, die Ursache des Unglücks, das jeder, der ein offenes Herz hatte, empfinden musste. Am Ende war jeder allein, das spürte ich, und ein Ende gab es alle Tage.
Ich begann, eine Buchhaltung meines Lebens zu erstellen. Ich sah die Jahre, die mir noch blieben. Ich begann zu rechnen. Was mir noch in Aussicht stand und was ich bereits
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