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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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erhalten hatte. Und ich bemerkte, wie leicht mir diese Kalkulationen fielen. Ich war nicht der Einzige, der verglich, maß und zusammenzählte. Nicht nur meine, auch die buchhalterischen Fähigkeiten meiner Mitmenschen waren hoch entwickelt. Die einzige Fähigkeit, die zum Leben unentbehrlich war, bestand in der korrekten Berechnung eines Risikos und des möglichen Ertrags einer Investition. Wie viel etwas kosten und wie viel herausschauen konnte. Es reichte, wenn man danach sein Leben richtete.
    Und ich fragte mich, ob ich bereits von der Krankheit meines Bruders angesteckt sei, ob seine Botschaft mein Denken angegriffen hatte. Wenn ich nur Einsamkeit sah, lag es vielleicht an meinen Augen? Oder hatte ich zum ersten Mal einen ehrlichen Blick geworfen auf die Welt? Ertrug ich die Wahrheit nicht? Oder war ich selbst krank geworden, hatte die Einsamkeit, die auf meinen Bruder gefallen war, auch meine Gedanken schwarz gefärbt? Wie konnte ich es herausfinden? Ich blieb ein Gefangener meiner Erfahrung, verletzt von der Tat eines anderen, verletzt von der Gewalt, die ich plötzlich überall sah. Im Großen wie im Kleinen, ich sah in der Gewalt das einzige Prinzip, nur sie schöpfte und zerstörte, eine einzige Aufbäumung, alle im Kampf gegen alle. Was schwach war, wurde vernichtet. Es gab kein anderes Prinzip, obwohl es manche gab, die das Gegenteil behaupteten. Das waren die Idioten oder solche, die nichts zu verlieren hatten. Alle anderen, die bei Verstand, bei Vernunft sind, werden sich rüsten, um möglichst lange der eigenen Vernichtung zu entgehen.
    Es muss zu jener Zeit gewesen sein, als ich begann, meinen Bruder zu hassen, zu hassen für seine Schmollerei, die er bis zum Äußersten getrieben hatte. Ich versuchte ein Leben zu führen, ich rannte herum und wusste nicht, wie ich all meinen Verpflichtungen nachkommen sollte. Ich hätte Verwendung für ihn gehabt. Seine Arbeitskraft wäre mir wertvoll gewesen. Soviel ich wusste, hatte er niemals einen Computer besessen, von einer E-Mail-Adresse war mir nichts bekannt, aber er hätte Besorgungen erledigen oder auf die Kinder aufpassen können. Er hätte unter meinem Schreibtisch leben können, im Winkel unter der Treppe, ich hätte ihm das Essen bezahlt, die Kleider, sein Leben wäre mir noch nützlich gewesen, und er hätte es nicht schlecht gehabt bei mir. Aber er hatte seine Arbeitskraft weggeworfen, sinnloserweise. Vielleicht hatte sein Leben nichts anderes verdient, als in den Müll geschmissen zu werden wie ein angeschimmelter Speiserest, diese armselige, mickrige Existenz in einer lausigen Kleinstadt. Nie hatte er etwas gewagt, mit Ausnahme der Hanfplantage, die er in seinem Dachboden einrichtete – dabei aber die Wasserleitungen so stümperhaft verlegte, dass es eines Tages bei den Nachbarn durch die Decke regnete und ein paar Stunden später die Polizei vor der Tür stand. Statt zu schwitzen, statt hartes Brot zu beißen, hatte er den bequemen Weg gewählt und auf den letzten Metern vor seiner Badewanne den Trost Jesu Christi gesucht und die Versammlungen einer Pfingstgemeinde besucht, kleingeistige Spießer, die alles und jeden heilen konnten, Augenleiden, Leberkrebs und Homosexualität, aber in seinem Fall nicht die Erfolglosigkeit. Nichts Gerades hatte er zustande gebracht, aber hielt sich gerade deswegen für etwas Besonderes, war eingebildet bis zur Eitelkeit. Nichts war ihm gut genug, nie war es mir gelungen, ihm eine Freude zu machen, alles war zu wenig, nichts wurde seinem Anspruch gerecht. Seinen Geschmack hielt er für unfehlbar, er gab vor, sich stets für das Beste zu entscheiden, was lächerlich und peinlich war, weil er sich nicht einmal das Zweit- oder Drittbeste leisten konnte. Seine Comics pflegte er mit einer Sorgfalt, als wären es nicht Billighefte vom Bahnhofskiosk, sondern Inkunabeln, er las sie nur am Tisch und achtete darauf, die Rücken nicht zu biegen, damit die Seiten nicht aus dem Leim gingen. Ausgerechnet die hatte er mir vermacht, eine schwere Kiste alberner Bildergeschichten, die einen höchstens schlichten Geschmack bewiesen. Die Kinder machten sich darüber her, und anfangs versuchte ich noch, sie zur Sorgfalt anzuhalten, um sein Gedächtnis zu bewahren. Jedes Mal, wenn sie die Seiten nicht ordentlich umblätterten, zuckte ich zusammen, sah ihn vor mir, mit schmalen Lippen und rollenden Augen. Das war sein Erbe, ein verkorkstes Verhältnis zu Groschenheften. Und auch sonst legte er mir Steine in den Weg, lähmte mich mit

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