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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Der Bruder war kein Feldherr gewesen und sein Feind nicht einer der größten Schurken der Weltgeschichte. Es stand kein Heer vor den Toren Uticas, auf einem Acker Tunesiens, gegen das er kämpfen musste, und seine Tat entbehrte jeden Heldenmutes, wofür dieser Cato in den Jahrhunderten nach seinem Tod gepriesen wurde. Es hieß, er bewache als Hüter der Unbestechlichkeit das Fegefeuer, ein Amt, um das sich mein Bruder bestimmt nicht beworben hätte.
    Ich legte die Berichte über jenen Römer beiseite und beachtete auch das Schicksal Senecas und Sokrates’ nicht. Der Bruder wurde von keiner Staatsmacht gezwungen, einen Schierlingsbecher zu trinken, er war, soviel ich sagen konnte, an keiner Verschwörung beteiligt. Und er hatte sich gleich für das Gift entschieden, im Gegensatz zu Seneca, der sich zuerst die Arme, dann die Beine öffnete, alles im Beisein seiner ebenfalls zum Tode bereiten Gattin, bevor er sich entschloss, in ein heißes Bad zu steigen, wo ihm schließlich der Atem ausging. Nein, es war kein Wahnsinniger vom Schlage Neros, der den Bruder in den Tod getrieben hatte, kein Erlass, der ihm befahl, an einem bestimmten Tag aus dem Leben zu scheiden. Wir lebten nicht in solchen Zeiten, auch wenn ich in besonders trüben Stunden grollte, wie wenig der Staat unternommen hatte, um ihn am Leben zu halten. Aber ich begriff schnell, wie ungerecht der Versuch war, einen Schuldigen für seinen Tod zu finden, was im Übrigen, wenn ich die Philosophen richtig verstanden hatte, eine Abwertung seiner Tat war, der einzig freien, zu der ein Mensch fähig sei, wie ich gelesen hatte. Letztlich jene Handlung, die ihn vom Tier unterscheide, vom Tier, das selbst unter den schmerzhaftesten und unwürdigsten Bedingungen an seiner Existenz festhalte, einerlei, wie erbärmlich diese geworden sei. Der Mensch aber, wie ich gelesen hatte, er alleine könne das Leben gegen den Tod abwägen, den Sinn eines Weiterlebens ermessen und sich entscheiden. So las ich und nickte beifällig, weil ich als moderner Mensch nichts höher hielt als den freien Willen.
    Ich schloss das Buch und fand mich weder getröstet noch beruhigt, weil ich diesen Heroismus des freien Willens im Fall meines Bruders für schal hielt, für den feigen Versuch, eine Niederlage als Heldentat zu verbrämen.
    Noch blieben die Liebenden, die Zurückgestoßenen, in deren Viten ich lustlos blätterte. Den Enthusiasmus und die Begeisterung, mit denen manche den Revolver an die Schläfe führten oder sich unter Jauchzen in die Fluten stürzten, konnte ich bei meinem Bruder nicht finden. Seine Tat schien aus der Nüchternheit, der kalten Bilanz zu folgen, und selbst wenn ich annahm, er habe in seinen letzten Monaten an einer zerbrochenen Liebe zu leiden gehabt, so fanden sich in seiner Tat nirgends die Spuren dieser Leidenschaft. Es fehlte jeder Fanatismus, er hatte sein Leben nicht hingeworfen, er hatte es abgelegt, zurückgegeben wie den Schlüssel einer Wohnung, aus der man zieht, mit nostalgischen Erinnerungen an die darin verbrachten Jahre vielleicht, doch gleichzeitig bewusst, wie überflüssig diese Schlüssel geworden sind.
    Ich hätte mir einen Abschiedsbrief gewünscht, einige Zeilen, die ein für alle Mal die Gründe dargelegt hätten, weshalb er freiwillig aus dem Leben geschieden war. Dieses Schreiben, so stellte ich mir vor, hätte mich von meinen Fragen erlöst, und weil es mir von meinem Bruder fehlte, erhoffte ich mir wenigstens einige Antworten von den Berichten, die fleißige Nervenärzte über unbekannte Selbstmörder verfasst oder zusammengetragen hatten. Sie hatten Abschiedsbriefe untersucht, die letzten Nachrichten an die Welt der Lebenden.
    Wie jene Maries, einer Erzieherin, die gerade sechzig geworden war und nach dreißig Jahren in Amerika zum ersten Mal auf Besuch in ihrer Heimatstadt weilte. In einer Woche wollte sie wieder abreisen, die Fahrkarte für die Schiffspassage war bezahlt, sie schrieb: »Bitte verzeiht mir was ich Euch allen getan habe. Telegraphiere P. und M., so dass niemand ans Schiff geht. Behaltet mich nicht tod im Hause thut mich sogleich in eine Morque oder wo Ihr wollt. Grämd Euch nicht ich bins nicht wert. Gott möge mir vergeben ich kann es nicht mehr ausstehen. Auf Wiedersehen im Jenseitigen. Bitte schicke Frau M die Sache in der schwarzen Tasche. Ich bin im Estrich. Marie.«
    Oder die kurze Notiz jener namenlosen Frisörin, ein Zettel, den man in der Tischschublade ihres Zimmers fand, ohne Datum. Die Frau, so berichteten

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