Koala: Roman (German Edition)
auf dem Schoß, lachend – vielleicht nur eine Täuschung, vielleicht hatte er da schon die Abzweigung genommen. Selbst wenn ich das Foto als echt nahm, machte es die Sache nicht besser. Denn dies bedeutete, dass er erst danach die Entscheidung getroffen und ihn auch dieser Besuch nicht davon abgebracht hatte – im besten Fall. Im schlechtesten war dieser Nachmittag ein weiteres Argument gegen das Leben gewesen. Indizien dafür gab es. Die Bitte, sich die Hände zu waschen, bevor er an die Wiege trat, war ohne Zweifel eine Beleidigung. Er musste glauben, ich hielte ihn für schmutzig und sähe in ihm eine Gefahr für das Kind, obwohl klar war, wie peinlich genau er auf seine Hygiene achtete. Ich hätte ihm sagen müssen, dass wir dies von jedem Besuch verlangten und mir bewusst war, wie überzogen die Vorsicht wirken musste, ich aber in eine neue Phase des Lebens getreten war und nun die Sorge um das Kind an erster Stelle kam. Ich war nicht bereit, auf seine Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, wenn dies bedeutete, das Kind zu gefährden. Ich hatte nicht bedacht, dass ich ihn damit in Richtung dieser Badewanne schubste. Und jene Sarkasmen über die Oberflächlichkeit der Menschen, die ich mir danach bei einem Spaziergang durch die Stadt erlaubte – hatte er sie als bitteren Ernst verstanden? Ich wollte den Reiz der eigenen Stadt mindern, damit er nicht glaubte, ich hielte mich für etwas Besseres, seit ich in der großen Stadt lebte. Er sollte mich nicht beneiden, und ich zählte die Nachteile auf, die das Leben hier mit sich brachte, die Hektik, die Unhöflichkeit, die Unverbindlichkeit der Gespräche und der Beziehungen – aber womöglich hatte ich ihm Argumente für die Beweisführung geliefert, wie böse die Menschen waren und wie wenig sich das Leben lohnte.
Jede Erinnerung bedurfte einer Überprüfung.
Und auch jedes Wort.
Genau genommen war er nicht mein Bruder gewesen.
Die genaue Bezeichnung lautete »Halbbruder«.
Wir teilten die Mutter, nicht den Vater, aber wir empfanden uns nicht als halb. Wir pochten darauf, ganze Brüder zu sein. Das lag aber nicht an unserer Verbundenheit, wie wir uns einzureden versuchten. Der treffende Begriff für unsere verwandtschaftliche Beziehung enthielt eine Geschichte, die wir nicht bei jeder Gelegenheit erzählen wollten, aus Scham, aus Schmerz, aus einer Mischung von beidem.
Unsere Mutter war die jüngere von zwei Töchtern eines selbstständigen Sattlers aus einem kleinen, unbedeutenden Dorf, einer Streusiedlung am Ufer eines Flusses. Nach der Schule zog sie in die nächste größere Stadt, wo sie in Bars und Tea-Rooms arbeitete, einen Chemiker kennenlernte, mit zweiundzwanzig Jahren schwanger wurde und an einem Novembertag einen Sohn zur Welt brachte. Das war das Jahr, in dem die Beatles berühmter wurden als Jesus, ›Luna 9‹ im Meer der Stürme landete und Gottfried Dienst in Wembley verhinderte, dass Beckenbauer und seine Kumpane Weltmeister wurden. Die Stadt: ein Kaff. Hübsch gelegen. Nichts los. Das Aufregendste waren die Panzer, die in langen Kolonnen auf den Gefechtsplatz fuhren. Die größte Garnison des Landes. Kasernen, Waffenplatz, Pulverfabrik. Ein Transitort, die Touristen fuhren weiter, in die berühmten Fremdenverkehrsorte höher in den Bergen. Ein Ort, der dazwischen lag. Bevölkert von Rekruten, die abends aus den Kasernen in die Kneipe strömten, wo die junge Frau arbeitete. Sie trennte sich vom Vater ihres Sohnes, heiratete den jüngsten Spross einer angesehenen Familie, ein labiler Charakter, intelligent, kriminell, nach Vermögensdelikten zweimal im Gefängnis. Mit diesem Mann einen Sohn gezeugt. Mich. Scheidung. Den älteren Sohn ließ sie bei seinem Vater, tat sich mit einem Witwer und seinen zwei kleinen Kindern zusammen, ein Junge und ein Mädchen, meine Stiefgeschwister. Den Halbbruder sah ich nur noch selten.
Er ein mäßiger Schüler mit einer labilen Gesundheit. Kyphose. Schlechte Augen. Dicke Brille. In der Schule Beginn einer rätselhaften und lebenslangen Verbindung mit verglasten Türen: Die erste übersieht er, durchbricht die Scheibe mit dem Kopf. Davon zeitlebens Narben um die Augen und Schläfen. Nach neun Jahren Primarschule eine Lehre als Bäcker / Konditor. Danach zweites Treffen mit einer Tür und Wiederholung des Stunts von Buster Keaton aus dem Film »Steamboat Bill, jr.«: Bei der Arbeit mit einem Handstapler hebt er ein Stahltor aus den Angeln. Gewicht: fünfhundert Kilo. Überlebt, weil dort, wo das Tor auf
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