Koala: Roman (German Edition)
Zeugnisse, sie waren Rechtfertigungen, entweder zu bitter oder zu süß. Sie hatten jeden Wert verloren. Wenn ich wissen wollte, was meinen Bruder am Leben gehindert hatte, musste ich einen anderen Weg finden. Natürlich hätte ich mich an seine Freunde, seine Familie wenden können, aber warum sollten sie sich nicht auch in den Anekdoten verlieren und beschönigende Erinnerungen kolportieren – Geschichten, die nichts über das Ereignis erzählten, sondern ebenso verfälschte Zeugnisse waren, gestaltete Erzählungen, an manchen Stellen zugespitzt, im Ganzen gerundet? Ich hielt es nicht für möglich, dass jemand ehrlich mit sich war, aber ich machte niemandem einen Vorwurf. Jeder versuchte, sich von der Schuld zu entlasten, um weiterleben zu können.
Über meinen Bruder würde man von nun an nur jene Geschichten erzählen, die seine eigene Verantwortung belegten, dass sein Tod die Folge eines falschen Denkens, einer falschen Einstellung zum Leben gewesen war. Aber war das nicht die Umkehrung der Beweisführung? Sein Leben wurde als gescheitert bezeichnet, weil er sich umgebracht hatte, und man würde in seiner Biografie nichts mehr finden, das für das Gegenteil, für den Erfolg sprach. Mein Bruder hatte immerhin eine Möglichkeit gefunden, um fünfundvierzig Jahre am Leben zu bleiben. Und diese Möglichkeit musste nicht falsch sein, nur weil sie nicht für ein Leben von sechzig, siebzig, achtzig Jahren gereicht hatte. Wenn einer nach gängigen Maßstäben ein erfolgreiches Leben führte, Besitz anhäufte, Nachkommen zeugte und mit sechzig Jahren einen schnellen Herztod starb, dann zweifelte selten jemand an seiner Lebensführung. Und doch war dieser Erfolgreiche genauso tot wie mein Bruder. Gerade die rechtschaffenen, pflichtbewussten Menschen, die nach den Vorgaben ihrer Zeit gelebt hatten, wurden am schnellsten vergessen. Die gängigen Tugenden, nach denen auch ich lebte, Fleiß, Strebsamkeit, Ehrgeiz, bewahrten jedenfalls nicht vor dem Unausweichlichen. Man mochte behaupten, diese Toten hätten die Werke auf ihrer Seite, ihre Taten würden an ihre Existenz erinnern, aber wenn ich mir die Welt ansah, die durch diese Taten geformt war, dann fand ich nicht viele Argumente, die für den Ehrgeiz und den Fleiß sprachen, und ich konnte nicht ausschließen, dass diese Welt friedlicher gewesen wäre, wenn sich mehr Menschen an die Prinzipien meines Bruders gehalten hätten. Wenn sie sich berauscht und ohne Ambition ihre Tage hätten verstreichen lassen, für sich nur das Nötigste in Anspruch genommen hätten, einen Besitz, dessen Auflistung auf anderthalb Seiten Platz fand und in einer guten Stunde unter den Freunden verteilt war.
Trotzdem ließ sich seine Niederlage nicht leugnen, ja, er war gescheitert, aber je länger ich darüber nachdachte, umso mehr wuchs der Verdacht, dass er keinen Kampf gegen sich selbst, gegen seine Laster, sondern gegen einen größeren, mächtigeren und vor allem älteren Gegner verloren hatte.
Im Völkerkundemuseum stieß ich auf eine Tonfigur, eine sogenannte Steigbügelflasche der Chavìn-Kultur, die dreitausend Jahre alte Darstellung einer Selbsttötung. Eine sitzende, nach vorne gebeugte Person in Lendenschurz und mit Ohrpflöcken schlitzte sich mit der linken Hand den Hals auf, in einer anatomisch unmöglichen Position, da der Kopf um einhundertachtzig Grad verdreht und nicht gegen den Boden, sondern zum Himmel gewendet war. Auf dem Rücken eingeritzt ein Wesen mit menschlichem Gesicht und exzentrischem Auge, aus dessen Mund etwas herauszuströmen schien – Einzelheiten, die mir vor dem Schaukasten verborgen blieben und die ich dem Kommentar entnehmen musste. Es sei die einzige Darstellung eines Suizids im archäologischen Fundgut Südamerikas, hieß es weiter, und die Wissenschaftler lägen über der stilistischen und kulturellen Einordnung im Streit – was für die gesamte Kultur dieser altamerikanischen Menschen gelte, die tausend Jahre vor unserer Zeit in Peru Opferplätze erbauten, in den Fels hinein ihre Tempel schlugen, Stelen errichteten mit zu Tieren verformten Menschengesichtern und den Köpfen Katzenartiger. Ihre Beschaffenheit ließ auf eine Gesellschaft mit einer höchst differenzierten Geschichte schließen. Legenden, in denen jede Figur ihren besonderen Platz einnahm, eine Biografie besaß, eine Stellung in diesem Weltgebäude, von dem wir nur Bruchstücke ihrer Möblierung kannten, aber keine zusammenhängende Erzählung, die erklärt hätte, auf welche Weise
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