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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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diese Objekte miteinander verbunden waren, welchem Zwecke sie dienten, welche Ängste oder Hoffnungen sie beschworen, was die Menschen an ihnen schön oder erschreckend fanden, denn auf eine Schrift hatten diese Menschen verzichtet.
    Und ich fand, das Problem dieser Forscher lasse sich mit meinem vergleichen. Wie sie musste ich mich an Artefakte halten und zu ihrer Deutung Vergleiche ziehen, Vermutungen anstellen und vor allem die Vorstellungskraft bemühen. Der Imagination musste die Funktion einer erkenntnistheoretischen Maßnahme zugemessen werden, um eine Erzählung zu rekonstruieren, von der man keine abstrakten Begriffe, sondern nur konkrete Bilder besaß. Aus den Fotoalben, Zeigemappen und den restlichen Dokumenten, die in meinen Besitz gekommen waren, in den Fundstücken seines Lebens, im Beifang einer Existenz, musste ich einen Zusammenhang suchen.
    Es muss zu jener Zeit gewesen sein, als ich in einer alten Plastiktüte mein Schreibheft aus der zweiten Klasse fand, eingeschlagen in rotes Papier, darauf die Abbildung jenes Tieres, dessen Namen ich an jenem Abend bei seinen Freunden gehört hatte, ein putziger Kobold, der sich an einem Eukalyptuszweig festhielt. Ich tat dies als Zufall ab, als Koinzidenz, die mir durch die Erinnerung an meinen Bruder zwar einen Stich ins Herz versetzte, weiter aber keine Bedeutung besaß. Ich packte das Heft in eine Kiste und verstaute das Ganze im Keller.
    Das Tier aber gab keine Ruhe, das nächste Mal zeigte es sich beim Eingang einer Bar in der Nähe des Bahnhofs, einer Kneipe, die sich ein australisches Aussehen gab. Eine Polyesterfigur in Gestalt des Tieres, mit umgebundener Schürze und Tablett, pries grinsend die verschiedenen Biersorten an. Dutzende Male musste ich vorbeigegangen sein, ohne sie zu bemerken, dass sie mir gerade jetzt auffiel, schien mir einleuchtend, aber weiterhin ohne Bedeutung.
    Doch ein paar Tage später tauchte das Tier wieder auf, in einem der lächerlichen Filmclips, mit denen man im Flugzeug die Passagiere davon ablenkte, dass man sie zu gewöhnlichem Frachtgut degradiert hatte. Das Tier döste in einer Astgabel, knabberte am Grün, plumpste vom Baum, bevor es einem nächsten Lulatsch Platz machen musste, der die Reisenden mit anderen Tollpatschigkeiten unterhielt.
    Ich erklärte mir diese Häufung mit einem psychologischen Phänomen. Wer seine Wahrnehmung auf eine bestimmte Erscheinung eingestellt hat, begegnet ihr plötzlich bei jeder Gelegenheit – jedenfalls waren danach die Pforten geöffnet, und das Tier erschien epidemisch: auf Schlüsselanhängern, auf den Zahnbürsten der Kinder, auf dem Eis-Papier, auf Radiergummis – ich war umzingelt von einer Horde plüschiger Gnome, die mich mit ihren Knopfaugen anglotzten. Die Unruhe, die mich dabei befiel, lag nicht nur an der Erinnerung an meinen toten Bruder. Ich wurde das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben, etwas stimmte nicht. Stets wurde das Tier als drolliger Kobold gezeigt, flauschig, albern, eine Kapriole der Natur, ein Emblem der Niedlichkeit – all das war mein Bruder nicht gewesen, im Gegenteil: Er hatte eine Strenge besessen, eine Härte, die aus einer Überzeugung zu kommen schien, er schmiegte sich nicht an, er taugte nicht zum Kuscheltier. Er konnte unangenehm sein und ließ sich ungern auf Kompromisse ein. Er besaß keinen bürgerlichen Ehrgeiz, er befand sich im Widerstand, mehr als jeder andere, den ich kannte, und er besaß Grundsätze, die er nicht verhandelte, unter keinen Umständen. Was hatte er also mit diesem Tier zu tun, mit dieser Karikatur der Harmlosigkeit?
    Eine Zeitlang versuchte ich mir einzureden, dass sie einfach ein falsches Totem gewählt hatten und kein Sinn darin zu finden sei. Es waren Kinder gewesen, Halbwüchsige, die den Namen ausgesucht hatten, was hätten sie wissen sollen über das verborgene Wesen eines Tieres und seine Übereinstimmung mit jenem meines Bruders? Dagegen sprach das wenige, was ich über das Tier wusste. Scheut jede überflüssige Bewegung, lebt als Einzelgänger – Züge, die bei meinem Bruder schon als Kind zu finden gewesen sein mochten. Aber was war mit den Übereinstimmungen, die er erst später entwickelt hatte? Dass er ein Leben lang seinem Standort treu bleiben und niemals den Ehrgeiz entwickeln würde, seinen Baum zu verlassen, hatten sie nicht wissen können. Ebenso wenig, mit welcher Hingabe er seinem Kraut verfallen würde, so sehr, dass es eine Zeitlang seine einzige Nahrung zu sein schien.
    Vielleicht war

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