Koala: Roman (German Edition)
Raststätten und fuhren wieder heim.
Das waren unsere Sonntage, unsere gemeinsame Zeit der Kindheit, durch deren Erinnerung ich spazierte wie durch einen Garten. Bilder tauchten auf, versanken und machten anderen Platz, ein bunter, manchmal bedrängender Reigen, lebendig und scheinbar detailliert. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass diese Bilder im Dienst meiner Empfindungen standen, dass die Angst, der Schmerz und die Scham sich in der Auslage der Erinnerungen bedienten und jene Motive wählten, die zu diesen Gefühlen passten. Alles andere wurde nicht beachtet. Ich fragte mich, wie ich vor seinem Tod an gewisse Erlebnisse gedacht hatte, aber das gelang mir nicht. Meine Erinnerungen kamen mir mittlerweile vor wie ein Sortiment nostalgischer Konserven. Wie wir samstags auf unseren Fahrrädern durch die alte Gießerei fahren und wie zauberhaft fremd ich mich fühle, als wäre ich ein anderer Junge in einer anderen Stadt. Oder die Sommertage im Flussbad, mit seinen Freunden, denen ich mich anschließen durfte, wie ich mit ihnen von den Brücken ins Wasser springe und mich groß und mutig fühle. Er kam in diesen Erinnerungen nicht vor, ich war der Hauptdarsteller, meine Empfindungen, mein Glück und meine Sinne gaben das Drehbuch vor, und er hatte eine Nebenrolle als entfernte Stimme, als Schatten, ein Bezugspunkt ohne Konturen, ungenau und verschwommen. Doch in jenen gelebten Tagen, bevor sie eine Erinnerung wurden, hatte ich ihn wahrgenommen. Er war nicht immer derselbe gewesen. Er hatte geschwiegen und danach einen Spaß gemacht, hatte zugehört und sich wieder abgewandt. Diese Wechsel des Ausdrucks waren eingeebnet, die Erinnerung hatte ein dauerhaftes, gleichzeitig flaches Bild geschaffen. Hatte er schon vor seinem Tod diese schattenhafte Existenz in meiner Erinnerung gespielt? Ich konnte mich nicht in den früheren Zustand versetzen, nicht mehr an ihn denken, als wäre er noch am Leben. War ich stolz auf ihn gewesen? Hatte ich ihn belächelt oder bedauert? Er war besonders gewesen, das wusste ich, aber wie besonders? Etwas war verschlossen seit seinem Tod, eine Tür war zugegangen, die Brücken waren abgebrannt. Mit jedem Gedanken verschwand er mehr und wurde zu einer Gestalt in einem Nebel, der immer dicker wurde. Ich war dabei, ihn ganz zu verlieren, jede verlässliche Erinnerung an ihn, und gleichzeitig wuchs eine Zärtlichkeit, das Bedürfnis, meinen Bruder in den Arm zu nehmen, etwas, was ich mir vorher nie gewünscht hatte. Die Körperlichkeit hatte gefehlt, nie hatte ich ihn angefasst, wie ich andere anfasste. Niemals hatte ich ihm auf die Schulter geschlagen oder einen Klaps gegeben, nie zur Begrüßung einen Kuss oder auch nur eine Umarmung, ich wusste nicht einmal, ob wir uns die Hand zum Gruß gereicht hatten. Für Berührungen war er nicht robust genug, so hatte ich es mir erklärt, aber das war unsinnig – einen Kuss ertragen selbst Sterbende. Und tatsächlich war er das gewesen. Ich begann zu glauben, die längste Zeit einen Toten zum Bruder gehabt zu haben, oder wenigstens einen Untoten, einen Mann, der mehr schlecht als recht seine Fäulnis versteckt hatte. Auch mein Ekel fand eine Erinnerung, sah erneut die Wunden, die ich einmal entdeckt hatte, in einem Sommer war es gewesen, wir saßen in einem Gartenrestaurant, als ich auf seinen blanken Schienbeinen münzengroße eiternde Löcher entdeckte, Folge des Heroins, dem er schon Jahre zuvor entsagt hatte, und das Entsetzen packte mich, weil ich plötzlich begriff, wie sterbenskrank er gewesen war, wie er unter unseren Augen verweste und wir ihn sich auflösen ließen, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Und ich fragte mich, ob die Reinlichkeit, für die er bekannt war, ob die Duftwasser und Deodorants nur dazu gedient hatten, den Verwesungsgeruch zu vertreiben, so wie die Syphilitiker sich parfümierten, um den Gestank der Schwären zu übertünchen. Ich war von meinem eigenen Bruder angewidert, schwankte zwischen Ekel und Mitleid für den Kranken, der in meiner Vorstellung lag wie die Leiche Christi auf dem Bildnis von Holbein, mit verkrüppelten Füßen und übergroßen Zehennägeln. Ich wollte die Bilder verscheuchen, aber sie setzten sich fest, ich wurde sie nicht mehr los und rannte ans Fenster, riss es auf, blickte vier Stockwerke tief hinunter auf den Parkplatz, wo der Nachbar gerade seinen Wagen wusch und einen besorgten Blick warf auf einen Mann, der blass am Fenster stand und nach Atem rang.
Meine Erinnerungen waren keine
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