Koala: Roman (German Edition)
würde, nicht nur unter seinen Kameraden. Die Kraft seines Totems, seine Sendung sollten ihn leiten auch jenseits dieses Zirkels, unter jenen, die nichts von seiner Existenz wussten, nichts von seinem ständigen Begleiter, dem ewigen Schatten, der Quelle seiner Kraft, Zuflucht und Schicksal.
Mit seinem ersten Namen würde man nach ihm rufen, der zweite Name aber würde ihn rufen, und so, wie der erste Name die Tatsachen beschrieb, würde sein neuer Name das enthalten, was immer möglich sein würde, sein geheimes Wesen, seine wahre Bestimmung.
Er wünschte sich ein Totem der Stärke, Panther vielleicht, das hätte zu seinen schwarzen Haaren gepasst, aber dieser Name war bereits vergeben. Oder Fuchs, er konnte listig sein. Wolf wäre zu schmeichelhaft gewesen, er besaß weder dessen Gestalt noch Charakter, das musste er zugeben. Er brauchte einen Namen, der seinem Wesen entsprach, denn gewiss wollte er nicht enden wie jener scheue Junge, mit dem er das Zelt teilte und den ein unglückliches Geschick auf den Namen Grizzly getauft hatte. Niemand erinnerte sich, wie man darauf gekommen war, ob es damals einen vernünftigen, jetzt vergessenen Grund gegeben hatte oder einfach Bosheit dahintersteckte. Wer den Knaben verspotten wollte, brauchte ihn nur bei seinem Namen rufen. Seine schmächtige Gestalt war das Gegenteil eines Bären, er würde niemals ein Jäger, er würde niemals jemanden einschüchtern. Es war ohne Kraft und Ausdauer, und seinem Totem glich dieses sanfte Kind nur, wenn die Kameraden es durch das Lager jagten und mit Stöcken auf seine Füße einschlugen, bis es tanzte wie ein Bär auf dem Jahrmarkt.
Jemand sprach ihn an.
Er drehte seinen Kopf.
Du gehörst nun zu uns.
Und wer zu uns gehört, braucht einen Namen.
Dein Name kommt von weit her.
Aus einem anderen Land.
Über die sieben Weltmeere ist er gereist, bis hierher, damit er dich finde.
Trage ihm Sorge.
Werde ihm gerecht.
Er wird dich beschützen. Aber auch du musst deinen Namen beschützen. Behalte ihn für dich. Damit er seine Kraft behält, muss er ein Geheimnis bleiben.
Der Name wurde ausgesprochen.
Er hörte ihn.
Es waren drei Silben.
Er kannte den Namen, er kannte das Tier.
Das Tier war nicht schwarz. Es war nicht stark. Es war faul und hatte pelzige Ohren, ein Viech, über das man lachte. Das Beste, was man über das Tier sagen konnte, war, dass es niedlich war.
Es musste ein Scheinname sein. Er hatte von diesem Scherz gehört, den man sich manchmal erlaubte. Man ließ den kleinen Scheißer ein paar Tage im Glauben, er werde von nun an ›Wurm‹ oder ›Marienkäfer‹ heißen. Man zog ihn eine Zeitlang damit auf, machte ihn fertig, bis er sich weinend in sein Zelt verkroch. Dann wiederholte man eines Nachts die ganze Sache und nannte ihm den richtigen Namen.
Sie stiegen von ihrem Baum, müde zogen sie zurück ins Lager.
Sie legten sich schlafen. Die restlichen Tage verbrachten sie damit, das Lagertor, die Latrine und den Wachturm abzubauen.
Die Nächte waren ruhig. Zu ruhig. Keiner kam.
Der letzte Tag brach an. Er glaubte immer noch, dass einer der Führer ihn vor der Abreise beiseitenehmen und den richtigen Namen nennen würde. Sie holten zum letzten Mal die Fahne mit der Burgunderlilie ein, standen noch einmal im Karree, dann war das Lager vorbei, und er wusste, dass er von nun an mit diesem Namen würde leben müssen.
Er würde niemals nach den Gründen fragen können. Dies musste ein Geheimnis bleiben.
Sie fuhren zurück in die Stadt, der Herbst kam. Er versuchte, mit seinem Namen Frieden zu schließen.
Keine Majestät darin. Keine Eleganz. Nichts Erhabenes, noch nicht einmal List oder Verschmitztheit, keine Verschlagenheit. Ein pelziges Knäuel. Eine Kapriole der Natur. Ein Witz der Evolution. Was sollte er damit anfangen?
Er war ein kleiner Scheißer, aber das musste ja nicht so bleiben. Er wollte ein großer Scheißer werden. Und es gab nicht nur das Scheißkaff, es gab größere Scheißkäffer. Und da wollte er hin. Aber wie sollte das gehen mit diesem Tier?
Sein Vater fragte ihn, ob er einen Namen erhalten hatte, und er war froh, dass er sich auf das Geheimnis berufen konnte und diese Lächerlichkeit nicht aussprechen musste.
In der Bibliothek seiner Schule lieh er sich ein Buch über sein Totem. Darin Bilder dieses flauschigen Gnoms im Kreise einer Menschenfamilie, Mutter, Vater, Tochter, vereint im Schatten eines Baumes. Der Vater drückte das Wesen an seine Brust, die Tochter kraulte das Fell, während
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