Koala: Roman (German Edition)
die Mama hinter den beiden stand und die drei mit ihrem Lächeln segnete. Er las: »Ein typischer Tagesablauf im Leben dieses freundlichen Gesellen: Fressen, Schlafen, Ausschau halten und Dösen. Stress scheint es auf alle Fälle nicht zu geben.« Er las: »Was liegt näher, als dass man sie einfach in die Arme nimmt und sie gerne hat – es macht ihnen anscheinend auch Spaß.«
Das passte alles nicht zu ihm.
Er war kein Kuscheltier.
Keiner hatte ihn jemals einfach so in die Arme genommen. Schon gar nicht seine Mutter, die ihn vor ein paar Jahren verlassen hatte, mit einem anderen Mann lebte, in einer anderen Familie, die er einmal monatlich besuchte, sonntags.
Er betrachtete sich im Spiegel.
Dunkle, dicke Locken. Ebenso schwarze Augen. Eine Haut, die ins Olivgrün tendierte. Er sah nicht aus wie seine Kameraden mit ihren milchigen Teints, den roten Wangen von der Butter und der Sahne. Er trug etwas Fremdes in sich. Seine Urgroßmutter hatte sich mit einem Fahrenden, einem Kesselflicker, eingelassen. In seinen Adern floss Zigeunerblut. Zigeuner waren nicht niedlich. Sie waren stolz und gefährlich.
Und dann las er etwas in diesem Buch, etwas, das ihm Angst machte und mit dem er noch weniger klarkam und das er nicht begriff. Er las: »Als ausgesprochene Spezialisten, von ihrem Lebensraum wie ihrer Nahrung her gesehen, stellen die Tiere eine heikle Art dar. Veränderungen ihrer gewohnten Umgebung vermögen sie kaum zu verkraften. Sie bleiben ein Leben lang mit ihrer Gegend verbunden.«
Was zum Teufel sollte das heißen? Hatten seine Kameraden das gewusst? Sie hielten ihn nicht nur für putzig, sie hielten ihn auch für faul. Gut. Damit konnte er notfalls leben. Aber hier bleiben, in dieser Stadt, ein Leben lang? Sich niemals bewegen, verwurzelt bleiben, ausgerechnet er, ein Achtelzigeuner, ihn, den es fortzog, der Abenteuergeschichten las, Berichte über ferne Länder?
Er hatte keine Ahnung, was er hier anfangen sollte. In dieser Stadt.
Und vor allem – was war es, das er nur hier bekommen sollte, das es nirgendwo anders gab, auf das er angewiesen sein sollte?
Hier, in dieser Stadt, wo es nichts gab außer Soldaten und Fabriken? Wie sollte er an diesem Ort bleiben, was sollte hier aus ihm werden? »Veränderungen ihrer gewohnten Umgebung vermögen sie kaum zu verkraften.« Er wusste nicht einmal, was das hätte sein sollen, die gewohnte Umgebung. Die Welt veränderte sich, und sie veränderte sich schnell.
Er erinnerte sich noch an den Großvater, einen Sattler mit einer eigenen Werkstatt, wo er auf dem Schoß des Alten gesessen und dem Auf und Ab der Nadel zugesehen hatte. »Nähen« war eines seiner ersten Worte gewesen, aber der Großvater war verschwunden. Jungfrauen hatten ihn getötet, täglich vierzig, die er sich gegönnt hatte, Zigaretten der Marke ›Virginie‹. Und mit dem Großvater war seine Werkstatt verschwunden, eine ganze Welt war versunken, das Kummetkissen, die Reifelmaschine, das Halbmondmesser und der Lederhobel, ebenso der Kantenzieher, die Leder- und die Gurtspannenzange, sein Sattlerroulett, die Priquemaschine und der Nähkloben, das Nähross, das Falzeisen, verschwunden wie die Ahlen und die Riemernadeln. Natürlich: Kaum einer schlief noch auf Rosshaarmatratzen, wie Großvater sie hergestellt und ausgebessert hatte, und deshalb brauchte niemand mehr zu wissen, dass die Schwanz- und Schweifhaare mit Wasser ausgekocht und durch Hecheln in lange und kurze getrennt wurden. Die ersten, die mindestens sechzig Zentimeter messen sollten, aus Russland aber manchmal zwanzig Zentimeter länger kamen und für Violinenbögen benutzt wurden. Die kürzeren, die Großvater gebraucht hatte, wurden durch Sieden und Dämpfen gereinigt und zum Kräuseln geneigt gemacht, man nannte sie deswegen Krullhaare. Sie bildeten das beste Polstermaterial. Gute Rosshaare waren hart und elastisch, schon gebrauchte erhielten ihre Elastizität wieder, wenn man sie auskochte und zum Trocknen auf Stöcke wickelte – die ebenso verschwunden waren wie jene Arbeiter, die in den Gerbereien selbst die kürzesten Haare vom Fell der toten Tiere schabten, um sie für Mauerputz zu verwenden. Oder für die Filzhüte, die ebenso verschwunden waren wie die Hosenträger und die Flachsbündel, die Schindeln, die Maisschelferten und die Dreschschlegel. Und nicht nur die Sattler waren verschwunden, auch die Köhler und ihre Meiler, Füllibäume, Löschen und Wässerbleche, die Burden, die Birkenbesen, das Worfeln, die Brotbretter,
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