Kobra
begonnen habe – ins Hotel. Es ist schon halb acht durch, der Peugeot gleitet durch die Straßen von Paris, ich hocke schwankend auf dem Sitz und habe das mächtige Gefühl, als bewege sich alles um mich herum – die Passanten in den Querstraßen, die Gebäude und selbst die Kastanien auf die Avenue des Champs-Élysées – wie im Traum. Das geht vorbei.
Es kommt von der schlaflosen Nacht, der Anspannung und den Hunderten Kleinigkeiten im Zusammenhang mit Delacroix’s Tod, die das Unterbewusstsein jetzt sortiert und in seine Kartei einordnet. Ist mir auch schon früher passiert. Anscheinend trifft der Organismus in solchen Stunden seine Entscheidungen allein. Das Wichtigste bleibt fürs Unterbewusstsein, die äußeren Erscheinungen ziehen wie auf einer Filmleinwand vorbei, unwirklich.
Doch für solche Psychoanalysen bleibt nicht viel Zeit, denn mit dem Wagen sind es bis zum Hotel nicht mehr als fünf Minuten.
Vor dem Hoteleingang finde ich einen babylonischen Kofferturm vor. Zwei mächtige Busse von „Holiday Reisen“ warten mit gedämpft schnurrenden Motoren. Vor den Glastüren stehen ein Dutzend glatt rasierte und mit Kameras behängte Touristen, rauchen und schwatzen. Frauen sind keine dabei. Die kommen, klarer Fall, zu spät. Jetzt sind die letzten fieberhaften Vorkehrungen für die Schönheit dran, denn es steht das erste Gefecht bevor, und es ist nicht gleichgültig, wer es gewinnt.
Ich gehe an ihnen vorbei, und an mein Ohr dringt das wohlklingende Deutsch, in dem es kein einziges bekanntes Wort gibt. Drinnen im Hotel Morgenkühle. Das Reinigungspersonal ist soeben durch, nur irgendwo fern in den Korridoren brummen noch wie Riesenbienen die Staubsauger.
Am Empfang stehen Chloé und Jean Legrand. Er erklärt ihr etwas, einen Haufen Pässe liegt vor ihnen auf der Theke. Sowie er mich erblickt, bricht er ab und nickt mir zu. In diesem Augenblick bemerke ich Sophie. Sie öffnet die Fahrstuhltür und tritt heraus – sie kommt von oben. Ihr schmales Gesicht hat den Ausdruck eines Menschen, der mehr getan hat, als ihm aufgetragen war, aber nicht sicher ist, wie und ob es überhaupt gewürdigt werden wird.
„Was gibt’s?“, frage ich ohne lange Vorreden.
„Ich habe Herrn McBail befragt, Dr. Bouché.“
„McBail von 327, warum?“
„Er ist abgereist. Er kam gegen halb sieben mit seinen Koffern aus dem Zimmer. Ich habe ihn gerade noch abgepasst, und wenn die Kollegin Leroy nicht gewesen wäre, die gedolmetscht hat“, sie nickt Chloé zu, „hätte ich mich nicht mit ihm verständigen können. Sie hatten es nicht angeordnet, aber ich meinte, es wäre besser, ihn zu befragen.“
Offenbar erwarten mich heute allerhand Überraschungen.
„Wieso abgereist? Legrand hat mir gesagt, dass sein Zug gegen halb zwölf beziehungsweise mittags fährt.“
„Er sagt, er hätte ein Flugticket genommen, auf den Zug verzichtet, und jetzt fliegt er um acht Uhr fünf nach Istanbul.“
„Gut“, sage ich. Mir bleibt nichts weiter übrig, als mich mit dieser Tatsache abzufinden. „Worüber hast du mit ihm gesprochen?“
„Kollegin Leroy hat übersetzt, und ich habe ihm erklärt, dass heute Nacht einer der Gäste auf Etage 3 einen Selbstmordversuch unternommen hat.“
„Einen Selbstmordversuch oder Selbstmord?“
„Ich habe keine Erklärungen gegeben.“
„Gut. Weiter?“
„Er sagte, dass er sehr bedauere, uns aber nicht helfen könne. Er sei zeitig zu Bett gegangen, weil er heute zeitig aufstehen musste, und habe nichts gehört. Und was Herrn Delacroix betreffe, den kenne er nicht. Das war alles.“
„Wie hat Herr McBail ausgesehen?“
„Nichts Besonderes ...“, sagt Sophie vorsichtig.
Es ist klar, dass da etwas Besonderes war.
„Und genauer?“
„Einer von diesen ...“ Sie macht eine beredte Geste zu ihrem Kinn hin. Sophie spart sich das Wort, das ihr auf der Zunge liegt, aber ich kann’s mir vorstellen. Aus dem weiteren Bericht wird das Äußere von Herrn McBail klar. Ungefähr dreißig, Dreitagebart, elegant und recht hochmütig. Archäologe von Beruf, auf einer archäologischen Reise durch den Nahen Osten.
Sophies Beobachtungsgabe ist lobenswert, aber sie nutzt mir in diesem Fall wenig, denn Herr McBail sitzt sicherlich längst bequem in seinem Flugzeugsessel, hat den Gurt umgeschnallt und wickelt das saure Bonbon aus, das ihm die Flugbegleitung eben angeboten hat. In einer Stunde ist er in Istanbul, fährt in sein Hotel oder zur Blauen Moschee, in der
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