Kobra
Blick. Jean Legrand steht hinter mir und deutet geheimnisvoll mit den Augen zum Eingang. Mein Gott, hier spielen alle schon Police Nationale!
„Da wünscht Sie jemand zu sprechen.“
An der großen Glastür steht eine Frau in einem grauen Hosenkostüm. Ich stehe auf. Etwas an ihr kommt mir bekannt vor, aber ich kann mich nicht entsinnen, wo ich ihr schon mal begegnet bin.
Ich stelle mich nach Protokoll vor. Nichts Außergewöhnliches, eine sympathische Frau mittleren Alters, gut gekleidet. Mein Gott, wo bin ich ihr bloß schon begegnet?
„Sie haben mich vergessen“, sagt sie unsicher. „Wir haben uns auch wirklich lange nicht gesehen. Molière.“
„Oh nein, bitte kommen Sie!“ Ich lüge kaltschnäuzig und sehe es in ihren Augen zufrieden aufblitzen. Niemand wird gern vergessen, schon gar nicht eine Frau. Nur dass sich damit meine Rolle kompliziert.
Ich bitte sie in das Café – meinen Arbeitsplatz! – und als wir vor dem Tisch mit der bunten Tischdecke stehen bleiben, taucht in meinem Gedächtnis endlich ein fernes Bild auf. Die kleine Valentine. Die Schwester von Thommy, meinem Mitschüler aus dem Gymnasium. Sind die Jahre so rasch vergangen?
Ich versuche ein bisschen Zeit zu gewinnen, während wir überlegen, was wir bestellen sollen – was schon, außer Kaffee.
Die kleine Valentine. Damals war sie ein hübsches Mädchen mit großen braunen Augen und hellen Zöpfen, und wir alle, die ganze Gymnasiastenhorde, waren mehr oder weniger in sie verliebt und kehrte den Macho heraus.
Sie hat auch jetzt etwas von ihrer Anziehungskraft bewahrt, aber die braunen Augen sind recht müde. Was will man machen, ich bin im Laufe der Jahre auch kein Apoll geworden.
„Moliére hat mir gesagt, Sie wollten mich sprechen“, beginnt sie, „und ich habe angenommen ...“ Sie stockt und fügt unerwartet hinzu: „Immer, immer verwickelt er mich in verschiedene ...“
Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Es kommt gerade im rechten Moment, dieses Lächeln, und lockert die Atmosphäre auf. Aber es wird Zeit, dass ich ihr den Grund unserer Begegnung sage.
„Ich nehme an, Ihr, nun, Ihr ehemaliger Mann hat Ihnen bereits erklärt, worum es geht. Im selben Stockwerk, wo Sie beide gestern Abend waren ...“
Und ich spiele die bekannte Platte ab. Valentine Moliére sieht mich aufmerksam an.
„... Und ich bitte Sie, sagen Sie mir, wann genau Sie in das Zimmer gegangen sind, ob Sie etwas in Bezug auf Ihren Zimmernachbarn bemerkt haben, ob Ihnen etwas aufgefallen ist, solange Sie drin waren“, ende ich.
Valentine verzieht die Lippen. Sie schweigt ein Weilchen, dann erklärt sie: „Ich war gegen sechs bei Claude Moliére. Gegangen bin ich gegen halb zehn. Ich nehme an, das wissen Sie bereits von ihm. Und ich kann darin nichts Merkwürdiges sehen, dass Sie mich so detailliert vernehmen. Immerhin ist er mein Mann, wenn wir auch geschieden sind.“
„Ich bitte Sie! Begreifen Sie, mich interessieren nicht Ihre Beziehungen zu Claude!“ Ich versuche, das Gespräch in den Rahmen der Logik zurückzuführen, aus dem es auszubrechen droht.
„Was also dann?“
„Es geht um diesen Ausländer, und das ist es, was ...“
Ich stocke mitten im Satz, denn Valentine schluchzt unerwartet auf, ihre Augen sind gerötet. Ich ahne Schlimmes. Doch es ist zu spät. Die Schultern der Frau zucken krampfhaft, sie wendet den Kopf ab. Ich murmele ungeschickt etwas zur Beruhigung, aber sie hört nicht auf zu weinen.
Es wird still. Unten auf der Straße versucht jemand, einen Motor anzulassen, er knattert ein paar Mal und bleibt stehen. Dann wieder. Das Leben geht weiter. Ich sitze Valentine gegenüber, die ich viele Jahre nicht gesehen habe und die weint, und mir ist trübe zumute.
„... er ... dass wir uns in Hotels treffen ...“
Ich höre einzelne Wörter, allmählich werden die Sätze zusammenhängender, und die Erbitterung bricht durch. Sie liebt ihn. Er mag ein Casanova sein, ein übler Patron, der weder sie noch das Kind verdient, aber sie liebt ihn wie er ist. Sie hatte sich scheiden lassen, weil das Leben so nicht weitergehen konnte, es wäre die reinste Tortur gewesen mit ihm und seinen Geschichten, aber jetzt sei es auch nicht besser. Das Kind sei ganz verrückt nach seinem Vater, und sie sehe auch, dass er kein schlechter Kerl sei. Er sei großzügig und knausere nicht mit dem Geld. Er bringe ihr und dem Kind Geschenke mit, wenn er nach Paris komme, ginge mit ihnen aus, sei aufgeräumt und
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