Kobra
nicht fest genug, um auszuhalten, wenn man kräftig an ihnen zieht.
Ich kann nirgendwo eingreifen.
Sophie kommt und zeigt mir eine Liste mit Namen und deren Einreisedaten. Die Liste ist in mancher Hinsicht interessant, bedarf aber genauer Betrachtung. Sie muss mit den Ankünften verglichen werden, die mir Ledoux gegeben hat.
Sophie geht, nachdem sie ein paar zusätzliche Anweisungen für die Sicherheit der Leute von der „kleinen Etage“ erhalten hat.
Ich kann mir den Luxus nicht leisten, jemanden ohne mein Wissen durch die Zimmer spazieren und mir Überraschungen bereiten zu lassen. In der Nähe eines Toten mag ich keine Überraschungen.
Gerade überlege ich, welcher der folgenden Punkte meiner Tagesordnung Vorrang hat, als Dr. Poletti und Gattin das Café betreten. Er bemerkt mich schon von der Tür aus. Wir grüßen uns. Ich sehe, wie in ihm die Neugier mit der Etikette kämpft, und beschließe, die Neugier zu unterstützen. Übertriebene Zurückhaltung war mir noch nie sympathisch. Ich stehe auf und lade sie liebenswürdig an meinen Tisch ein.
Signora Poletti lächelt freundlich, und die beiden setzen sich. Sie hat ein zartblaues Kleid an, und darin sieht sie noch mehr wie ein Porzellanfigürchen aus.
Natürlich ist das erste Thema unserer Unterhaltung, warum ich ständig hier bin und wie es dem Patienten aus Zimmer 330 geht.
„Meine Frau war gestern den ganzen Tag sehr besorgt“, erklärt Doktor Poletti. „Wir hoffen, unser Nachbar ist außer Gefahr?“
„Er ist gestorben, Herr Kollege.“
Doktor Poletti schaut mich an, als erblicke er einen soeben im Café gelandeten Ankömmling aus dem All.
„Habe ich Sie richtig verstanden?“, fragt er, aber es ist klar, dass er mich sehr wohl verstanden hat.
„Exitus“, bestätige ich.
Immer habe ich mich über dieses Wort in unserem medizinischen Wortschatz gewundert. Es bedeutet „Abgang“, und der volle Terminus lautet „Abgang mit Tod“, aber so, wie er benutzt wird, haftet ihm ein anderer Sinn an, ich weiß auch nicht, welcher; vielleicht „einziger Ausweg“.
Ich habe ihn in allen Nuancen gehört. Gleichmütig, unbarmherzig, mitleidig, gehässig, hoffnungslos oder freudig – die ganze Skala menschlicher Gefühle. Wenn die Menschen nur hören könnten, wie nach ihrem Tod das „Exitus“ ausgesprochen wird, und zwar auf sie bezogen, nicht auf irgendjemanden – dann wäre vieles auf der Welt anders.
Doktor Poletti ist starr. Er schaut hilflos seine Frau an, wie ein Kind, dem man etwas Entsetzliches gesagt hat, und für einen Augenblick merke ich, dass bei diesem Ehepaar sie die Starke ist – sie, das zarte, zerbrechliche Wesen. Signora Poletti hat schon verstanden. Sie zwitschert einen Satz. Sein Tonfall erinnert an eine Erlaubnis.
„Dann ...“, beginnt der Doktor Poletti, „muss ich Ihnen, caro Collega, eine etwas merkwürdige Sache mitteilen ...“
Ich bin ganz Ohr und zeige das.
„Es war gestern Nachmittag. Ich war nicht im Zimmer, nur meine Frau, ich hatte zu der Zeit eine wichtige Verabredung bei Ihrem Lehrstuhl für Pharmakologie, und wir haben Fragen unserer künftigen Zusammenarbeit erörtert. Sehr sympathische Leute, caro Collega, und sehr interessante Ideen ...“
Das Gespräch droht abzugleiten. Doch Signora Poletti, die ebenfalls die Miene ihres Mannes beobachtet, merkt es und unterbricht ihn mit einem weiteren gezwitscherten Satz.
Poletti winkt ab: „Si, si, cara!“, dann wendet er sich wieder mir zu: „Entschuldigen Sie, ich sprach von meiner Frau. Sie war in unserem Zimmer und ruhte, will sagen, sie denkt, dass sie geschlafen hat. Geweckt hat sie das Klingeln des Telefons, aber anscheinend hat es wohl schon ziemlich lange geklingelt. Sie schläft, müssen Sie wissen, sehr fest, und hört es manchmal nicht, wenn jemand im Zimmer ist ...“
„Das Telefon, sagen Sie, hat geklingelt?“, unterbreche ich ihn.
„Si, si, das Telefon. Anscheinend hatte es schon lange geklingelt, denn bis sie aufgestanden war und den Hörer abnahm, war niemand mehr dran ...“
„Es wäre nicht wunderlich, wenn jemand Sie hätte sprechen wollen.“
„Ja, schon möglich, aber wissen Sie, meine Frau hat sich wieder hingelegt, und ein paar Minuten später hörte sie, wie jemand die Tür aufzuschließen versuchte!“
Signora Poletti benutzt den Augenblick Stille aus und wirft wieder einen Satz ein.
Der Doktor fährt fort: „Sie hat gedacht, ich wär’s, und hat meinen Namen gerufen. Der, der
Weitere Kostenlose Bücher