Kobra
„Soll ich ihn holen?“
Ich möchte mich erst mit den Umständen bekanntmachen, dann werde ich auch mit den Nachbarn reden.
Die Wohnung ist eigentlich eine größere Einzimmerwohnung: Vorraum, Zimmer, Küche mit Loggia. Alles ist mit Anspruch auf Kunstgeschmack eingerichtet – ich würde nicht sagen teuer, doch von jemandem, der zeigen will, dass er von diesen Dingen etwas versteht. Es geht nicht nur um die indirekte Beleuchtung und die afrikanischen Masken an den Wänden. Farben und Raumaufteilung haben inneres Maß. Eine behagliche Wohnung, äußerst ruhig. Eine Wohnung, in der unsere Anwesenheit völlig widersinnig wirkt.
Ebenso widersinnig ist, dass in dem Zimmer eine tote Frau liegt. Die Fenner liegt auf dem Fußboden, neben dem Sofa.
„Liegt“ trifft es nicht ganz. In ihrer gespannten, verkrümmten Haltung ist etwas sehr Charakteristisches. Sie lehnt mit dem Rücken am Sofa, als sei sie zurückgewichen und habe versucht, das Sofa zu erreichen, aber ihre Kräfte haben versagt.
So stark meine Nerven auch sind, das Gesicht der Toten anzusehen, vermeide ich. Sie ist wirklich zurückgewichen. Hat ein Tischchen umgerissen, die kleine Vase darauf ist auf den Teppich gefallen und wie durch ein Wunder nicht zerbrochen.
Um die Tote surrt gleichmäßig eine Filmkamera, blitzt das grelle Auge eines kleinen Scheinwerfers, und alles erinnert schrecklich an die Umstände, die zwei Tage zurückliegen. Von den Türklinken und Lichtschaltern sind die Fingerabdrücke schon abgenommen. Entfernungen werden gemessen, der Polizist fertigt eine Skizze an, einer von der Einsatzgruppe untersucht mit einer starken Lupe Zentimeter für Zentimeter den Teppich.
Die Fenner ist aus nächster Nähe mit einer einzigen Kugel in die Brust erschossen worden. Der Tod muss fast augenblicklich eingetreten sein – die Kugel hat vermutlich das Herz oder ein großes Blutgefäß getroffen. Doch es gibt fast kein Blut. Nur auf der eleganten Häkelbluse ist ein kleiner Fleck.
So wie es aussieht, ist der Mord erst vor kurzem verübt worden, vielleicht gestern Abend.
Ringsum nichts Auffälliges. Ein paar Modezeitschriften, ein kleines Radio, ein Buch auf dem Sofa. Ich sehe es mir an – die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig. Ein Telefon, daneben das Telefonbuch. Ich muss nachsehen, welche Nummern auf der ersten Seite notiert sind.
Die Fenner hat Schuhe an. Wollte sie weggehen, oder war sie gerade heimgekommen? Oder erwartete sie jemanden? Klar, dass ich mich bücke und nachsehe, welche Größe auf der Sohle eingeprägt ist. Leider auch hier keine 38. Amandine hat kleine Füße, mehr als eine 36 ist leider nicht drin. Ich hieve meine müden Knochen wieder hoch.
„Welche Nachbarn haben angerufen?“, frage ich den Polizisten.
„Die nächste Tür, Dr. Bouché. Die Donigs. Ich zeige es Ihnen, wenn Sie gestatten.“
Ich lasse den Polizist seine Arbeit fortsetzen, und klingle bei den Nachbarn, Sophie im Schlepptau.
Sofort macht uns ein Mann auf, er ist in meinem Alter, das Haar ein bisschen angegraut, mit lebhaften, schwarzen Augen. Auf seinem Gesicht spiegeln sich Erregung und Fassungslosigkeit. Er ist konsterniert, und es ist ja auch wirklich nicht leicht. Ein ruhiges Wohnhaus, alle kennen sich, man besucht einander, trifft sich bei Hausversammlungen, und auf einmal – die Nachbarin ermordet!
„Treten Sie näher, hier lang“, bittet uns Donig hinein, ohne zu fragen, wer wir sind.
Im Wohnzimmer sitzt der Capitaine de Police und spricht mit der Frau des Hauses. Frau Donig ist schwarzäugig wie ihr Mann und hat ein sympathisches, rundes Gesicht. Sofort wiederholt sie einiges von dem, was sie schon dem Capitaine de Police gesagt hat. Und vor allem, wie es dazu kam, dass sie am Morgen die Police Nationale angerufen haben. Das ist eine von diesen Geschichten, die man nicht erfinden kann. Sie passieren einfach, und ich habe mich immer gewundert, wie sie passieren können.
Alles lag an der Schnur, wie mir der Diensthabende vom Rayon gesagt hat. Der Schnur für die Wäsche zwischen den beiden Balkonen.
Donig hatte sich eine scharfsinnige Vorrichtung ausgedacht – zwei Rollen, mit denen sich die Schnur so bewegen läßt, dass man sie von beiden Balkonen aus benutzen kann, an denen sie befestigt ist. Heute war Frau Donig zeitig aufgestanden, hatte gewaschen, und als sie die Wäsche aufhängen wollte, sah sie, dass die Schnur am Balkon der Fenner aus der Rolle gesprungen war. Sie klingelte, klopfte, rief vom Balkon aus.
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