Kochlowsky 2: Und dennoch war das Leben schön
wie in ihren Kindertagen in Nikolai. Wenn er, der größere Bruder, Leo etwas sagte oder wenn er ihn ermahnte, hatte sich Leo immer hingestellt und mit den Handrücken geklatscht. »Humpelbein! Humpelbein!« hatte er dabei gerufen, und Eugen konnte ihm nie den Hintern verhauen, eben weil er von Geburt an hinkte und Leo natürlich schneller war.
Und jetzt, hier, tat er es wieder. Nur das ›Humpelbein‹ konnte er nicht rufen. Aber heute war Eugen stärker als Leo – der wußte es nur noch nicht!
Als Lesung Nummer zwei folgte ein Kapitel aus dem noch nicht veröffentlichten Roman ›Der hartherzige Vater‹. Es ging darin um einen äußerst miesen Kerl, der seine Familie und seine Umwelt ständig drangsaliert. Da bei diesem Vortrag viele, ja fast alle an Leo Kochlowsky dachten, bekam Eugen am Ende dieses Kapitels tosenden Beifall. Eugen nahm ihn mit einer Verbeugung entgegen.
Leo Kochlowsky ballte die Faust. Er verstand die Demonstration sehr wohl. Komm nur nach Hause, dachte er. Ich reiße dir jede Locke einzeln raus, du Mistknoten! Und dann fliegst du mit einem Tritt in deinen fetten Arsch aus dem Haus.
Das Wurzener Kammerorchester brachte ein kurzes Intermezzo, ein Stück aus der ›Wassermusik‹ von Händel. Eugen blieb am Blumenpult stehen, blätterte in seinen Manuskripten und empfand die Wonne einer süßen Rache.
Jetzt, Bruder Leo, geht's los! Da nützt auch kein Reiben der Handflächen mehr.
»Es folgt«, rief er mit dramatisch geschulter, wohlklingender Stimme in den feierlich stillen Saal, »der Monolog der Marketenderin Julie Äffchen aus meinem Gustav-Adolf-Drama ›Das Lager am Fluß‹. Dritter Akt. Abend. Julie Äffchen sitzt im Planwagen und zählt ihre Tageseinnahme. Ihr Hund Rübenschwein sitzt neben ihr und leckt sich da, wo sich Menschen nicht lecken können …«
Leo Kochlowsky verdrehte die Augen. Nein, schrie es in ihm, nein, Eugen, tu es nicht! Ich flehe dich an … halt die Fresse!
Im Saal verbreitete sich noch gedämpfte Unruhe. Der Hinweis auf das menschliche Unvermögen gab genau die Stelle an, wo der Hund sich leckte. Auch der Name Rübenschwein für einen Hund war – gelinde ausgedrückt – ungewöhnlich.
Eugen Kochlowsky verwandelte sich, für alle sichtbar, durch Haltung und Mimik in die Marketenderin Julie Äffchen und deklamierte los:
»Guck mich nicht so saudumm an, Rübenschwein! Ja, heute war's ein schlechter Tag. Wer ist hier durchgezogen? Die miesesten Lumpen aus dem Krankentroß. Nichts im Beutel, weder hier noch dort! Sechs Kerle waren hier im Stroh, ein paar lumpige Groschen haben sie gezahlt. Aber können wir sie uns aussuchen, Rübenschwein? Du willst fressen, und ich will fressen, deshalb guck nicht so blöd! Hab' ich noch 'nen knackigen Körper, na? Was willst du denn? Wer mit 'ner ausgeleierten Harfe spielt, ist froh über jeden Ton …«
In der zweiten Sitzreihe gab es Unruhe. Die Frau des Apothekers war ohnmächtig zusammengesunken. Bierbrauer Fleckmann sah entsetzt zu Leo Kochlowsky hinüber. Von hinten im Saal rief eine anonyme Stimme: »Sauerei! Aufhören! Was anderes! Musik!«
Die allgemeine Unruhe nahm zu. Füße scharrten, Stimmengewirr, noch gedämpft, erfüllte die Dunkelheit. Eugen Kochlowsky kam um das Blumenpult herum, ganz Marketenderin Julie Äffchen, und humpelte zur Bühnenrampe. Seine Stimme war reif für das Königliche Hoftheater in Dresden.
»Da fährt man nun siebzehn Jahr' in der Welt herum, über Berg und Tal, durch Sümpfe und Wälder, und ist immer den Kerlen zu Diensten, gestern dem Musketier-Feldwebel, heute dem Reiterleutnant, morgen dem Feldprediger …«
Da sprang mitten im Saal Pastor Maltitz auf und drängte sich durch die Sitzreihe. Er protestierte nicht, aber sein Aufbruch wirkte wie ein Signal. Der halbe Saal erhob sich und drängte zum Ausgang. Die anderen zögerten noch. Die Julie Äffchen war ja ein tolles Ding, aber die Ehefrauen neben einem waren empört und zischten Böses.
»Was hat so eine wie ich vom Leben?« donnerte Eugen in den Saal. »Wenn's ans Sterben geht, liege ich noch immer auf meinem Stroh, und kommt dann ein Pfaffe und fragt: Julie, wie war dein Leben?, dann kann ich nur antworten: Pfäffchen, ich habe – fein säuberlich mit Strichen gezählt – bis heute viertausendneunhunderteinundachtzig Kerle gehabt. Kann man dieses Leben nicht beschissen nennen …?«
Die letzten Standhaften sprangen nun auf und drängten ihre Frauen aus dem Saal. Jemand brüllte von der Tür her: »Verschwinde aus
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