Kochwut
Show, half höchstens manchmal im Gutshofladen aus, wo die Lebouton-Produkte verkauft wurden. Doch Pierre hatte sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, sich an diesem traurigen Tag dazuzusetzen. Da sie selten genug ausging, betrachtete sie so einen Abend als eine willkommene Abwechslung. So hatte sie ihrem Vater bei seinem frühen Abendessen Gesellschaft geleistet und nur ein wenig vom Großen Hans gekostet. Die Kombination aus dem süßen Grießteig mit Rosinen und kräftigem Räucherspeck, darüber der aromatische Johannisbeersirup, hatte angenehme Kindheitserinnerungen in Hilde geweckt. Hinrichs »Schmeckt genau wie bei deiner Mutter« war ein sehr großes Lob. Dann hatte er sie weggeschickt, denn es freute ihn, wenn auch sie einmal etwas vorhatte.
Hilde hatte ihr praktisches Flanellhemd gegen einen edlen Kaschmirrolli getauscht, der fast die gleiche Farbe wie ihre silbergrauen Haare hatte und das intensive Blau ihrer Augen betonte.
»Da hast dich aber tüchtig hübsch gemacht, min Deern!«, meinte Hinrich beeindruckt, als sie ihre Jacke im Flur anzog.
Neben Alix Blomberg, die immer noch das eng sitzende Etuikleid in einem dunklen Orangeton trug, das sie für die letzte Aufzeichnung angelegt hatte, kam sich Hilde trotzdem vor wie Aschenputtel. Und wieder fragte sie sich, was Christian und diese Frau verbunden hatte, als sie damals ein Paar waren. Sie zwang sich, ihren Blick nicht ständig auf Alix ruhen zu lassen. Liebe war eben nicht allein mit dem Verstand zu erklären, dachte sie dann. In ihrem Fall war das ja nicht anders.
Komisch. Frauen wie Alix schafften es immer, eine Konkurrenzsituation entstehen zu lassen. Ist das mein Problem, fragte sich Hilde, oder legt sie es darauf an? Alix war ein echter Paradiesvogel, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Wie sie sich bewegte, ihre Blicke warf, wie sie sprach, wie sie lachte – auf Hilde machte es den Eindruck einer perfekt einstudierten Rolle. Einer Rolle, die sie vor allem für die Männer spielte. Mit Frauen befasste sie sich anscheinend nur, wenn es ihrem eigenen Auftritt dienlich war.
Da die Gespräche sich hauptsächlich um Ereignisse während der Arbeit an der Show drehten und meist von Leuten handelten, die sie sowieso nicht kannte, hörte Hilde recht unkonzentriert zu, und ihre Gedanken begannen zu schweifen. Sie sah sich die Tischgesellschaft um sie herum an und fragte sich, ob wohl Christians Mörder darunter sein könnte. Hätte irgendwer hier einen Grund gehabt, Christian zu töten? Hatte jemand Streit mit ihm? Gab es irgendeine alte Geschichte, die jemanden zu dieser Tat getrieben hatte? Hatte irgendwer einen Vorteil von seinem Tod?
Da waren die Kochlehrlinge, die Pierre ausbildete und die oft aus schwierigen Verhältnissen kamen, manchmal auch eine kriminelle Vergangenheit hatten. Sie wusste nichts Konkretes und kannte die drei jetzigen nur von zufälligen Begegnungen, da sie sich öfter auf dem Gut aufhielten. Der eine, Thorsten mit den auffälligen roten Haaren, schien ein recht schlichtes Gemüt zu sein. Sie traf ihn öfter, wenn er draußen eine Rauchpause machte. Wahrscheinlich verbotenerweise, denn er verzog sich meist sofort, wenn er sie bemerkte. Aber er war immer freundlich, grüßte und wechselte auch mal ein paar Worte mit ihr. Jetzt saß er am Tisch und freute sich wie ein König, dass er frei hatte, während seine beiden Kumpel kochen und ihn bedienen mussten.
Der lange, blonde Ernie war immer sehr ernst, fast ein wenig mürrisch und furchtbar unsicher. Aber sie hatte vorhin festgestellt, dass er sehr geschickt bei allen Handgriffen war, die er bei der Zubereitung des Abendessens ausführte, und auch wie er die Regie zu führen schien, während Anatol meist nur hinter ihm stand und ihm über die Schulter sah. Wahrscheinlich war Ernie gar nicht unbegabt, hatte aber Schwierigkeiten, seine Fähigkeiten ins rechte Licht zu setzen. Jedenfalls fand sie es bewundernswert, dass Pierre sich der jungen Leute annahm und ihnen eine Zukunftsperspektive bot. Aber was hatten diese Jungs mit Christian zu tun? Wahrscheinlich gar nichts. Außerdem behauptete sie doch immer von sich, keinerlei Vorurteile zu haben.
Gerade servierte Anatol den Nachtisch. Er sah verdammt gut aus, der junge Mann, dachte Hilde, und er war sehr charmant, wie er so lachte und plauderte. Selbstbewusst erzählte er, dass er das Dessert ganz spontan kreiert hatte, als er heute überraschend in der Show für Maja Graflinger einspringen musste. Das Ergebnis war ein lauwarmer
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