Kochwut
Savarin, getränkt mit Orangenlikör, überzogen mit einer Schicht Aprikosenpüree und gefüllt mit frischen Erdbeeren unter einer Vanille-Sahne-Haube. Von der Küchenzeile war ein lautes Klappern zu hören. Ernie hatte die große metallene Rührschüssel fallen lassen und hob sie nun mit roten Ohren vom Boden auf.
Es war Anatol anzusehen, wie stolz er auf seinen ersten großen Fernsehauftritt war, der ihm scheinbar viel Applaus und Anerkennung eingebracht hatte. Als Pierre ihm noch einmal persönlich zur gelungenen Premiere gratulierte, wusste Anatol gar nicht mehr wohin vor Freude. Auch Pierre wirkte mächtig stolz, als er den bravourösen Einstand des jungen Mannes kommentierte. Er meinte, wenn Anatol sich weiterhin so gut entwickeln würde, könnte er es noch weit bringen. Er schien den Jungen wirklich zu mögen.
Anatol war in Hochstimmung, und vor allem Alix Blomberg schien es ihm angetan zu haben. Einer genauen Beobachterin wie Hilde entging nicht, dass er immer wieder ihre Nähe suchte, ihr etwas zuflüsterte, sie im Vorübergehen wie zufällig berührte und ihr lange Blicke schickte. Sichtbar reagierte Alix zwar nicht auf die Avancen des hübschen Burschen, während sie aufmerksam Pierres Worten lauschte, der neben ihr saß. Doch Hilde war sich sicher, dass sie Anatols Verhalten genau registrierte und wahrscheinlich auch genoss.
War Alix nicht fast einmal verlobt mit Christian? Und war die Verbindung nicht vor allem durch die alte Gräfin verhindert worden, wie man munkelte? Hatte Alix die Kränkung von damals bis heute nicht verwunden? Nein, das ist albern, dachte Hilde, deshalb bringt man niemanden um. Schon gar nicht Alix, die immer wieder neue Männer fürs Leben fand, wie Hilde aus den bunten Blättern in den Wartezimmern der Arztpraxen wusste, die sie mit ihrem Vater häufiger besuchte.
Aber Hilde fiel noch ein anderer Grund ein. Vielleicht hing es ja mit den Veränderungen der Show zusammen, die Pierre neulich angedeutet hatte. Er hatte es nur in einem Nebensatz erwähnt, und da Hilde sich mit dem Thema sowieso nicht auskannte, hatte sie auch nicht so genau hingehört. Aber es war wohl Christian, der angeregt hatte, das Konzept der Show zu verändern und sie zu verjüngen. Vielleicht betraf das ja auch Alix Blomberg, die zwar erheblich jünger als Hilde selbst war, aber immerhin auch die 40 schon überschritten hatte. Aber ein Mord?
Während um sie herum geredet und gelacht wurde, genoss Hilde ihren Nachtisch, der ganz wunderbar schmeckte, und gab sich weiter ihren Beobachtungen hin. Da war die Regieassistentin, eine junge Frau, die immer gestresst wirkte und die ständig zum Rauchen nach draußen verschwand. Neben ihr saß der Regisseur, der noch neu war bei der Show. Er beteiligte sich nicht so viel an der Unterhaltung, aber er sah ganz sympathisch aus. Außerdem gab es noch eine ganze Reihe von Leuten, die Hilde heute zum ersten Mal sah.
Es hieß ja, dass Täter und Opfer meist eine irgendwie geartete Beziehung zueinander haben und man immer zuerst in der Umgebung des Opfers suchen sollte. Christian hatte die letzten Jahre allein gelebt, soweit sie wusste. Und Clemens, sein Sohn und einziger näherer Verwandter, dem war sie das letzte Mal an Weihnachten auf dem Hof begegnet. Von ihren Eltern wusste sie, dass Christian sich wegen Clemens immer viele Sorgen gemacht hatte und oft seinen mangelnden Einfluss auf ihn beklagte. Nach der Scheidung war der Junge bei seiner Mutter aufgewachsen, und Vater und Sohn hatten sich nur selten gesehen. Clemens war inzwischen erwachsen, und was er genau machte, wusste Hilde nicht. Christian hatte nur einmal erwähnt, dass sie leider oft Streit bekamen, und führte das auf ihrer beider familientypische Sturheit zurück. Ein Vatermord? Sie kannte Clemens viel zu wenig, um darüber zu spekulieren.
Sie sah hinüber zu Pierre, der ihr gegenübersaß. Er sah müde aus. Kein Wunder, bei dem, was heute alles passiert war. Er hatte wahrscheinlich mehr als genug um die Ohren mit all seinen Aktivitäten. Wie war das eigentlich mit Pierre? Könnte er …? Auch wenn sie den Gedanken sogleich weit von sich schieben wollte, er drängte sich ihr geradezu auf. Pierre und Christian waren Geschäftspartner. Was, wenn es finanzielle Probleme gegeben hatte? Und dass geschäftliche Beziehungen unter Freunden oft im Streit endeten, war ja bekannt. Beim Geld hört die Freundschaft auf, sagte man immer. Sie hatte keine Ahnung, wie die Besitzverhältnisse am Gut und an den Unternehmen
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