Kochwut
rannten los. Angermüller und Jansen hinterher. Sie mussten das ganze Kavaliershaus umrunden, um dann links durch eine Öffnung in einer Mauer auf das dahinterliegende Gelände zu gelangen. Ein Gitter, das früher wohl einmal abgeschlossen wurde, hing in dem kleinen Durchlass und schwang jetzt ohne Schlüssel quietschend in seinen Angeln. Hinter dem Gebäude verlief der Hofgraben, von dem der Junge gesprochen hatte. Das gegenüberliegende Ufer wurde von undurchdringlichem Dickicht begrenzt. Der vielleicht drei Meter breite Graben lag voll im Schatten des Kavaliershauses und war komplett von einer Eisschicht bedeckt. An den Rändern des Gewässers stand vertrocknetes Schilf, dazwischen kniete Hilde Dierksen. Und dann sah Angermüller ihn da liegen. Auch die beiden Jungs blickten etwas ängstlich zu der Stelle. Angermüller nahm die Kinder freundschaftlich an den Schultern.
»So, ihr Helden, ihr geht jetzt mal nach Hause. Das habt ihr jedenfalls gut gemacht, ihr zwei, dass ihr gleich Bescheid gesagt habt! Später kommt vielleicht noch ein Kollege bei euch vorbei mit ein paar Fragen. Also, das war wirklich klasse, vielen Dank!«
Die beiden zogen ab, erleichtert und stolz zugleich, und Angermüller wendete sich wieder der Szenerie am Hofgraben zu. Leboutons Gesicht war kreidebleich, seine Augen geschlossen. In einer dicken, wattierten Jacke lag er auf dem Rücken zwischen den Schilfstengeln auf der Böschung und regte sich nicht. Hilde Dierksen hatte den Blick auf ihn geheftet und überhaupt nicht hochgesehen, als sie hier aufgetaucht waren. Auch sie sah ziemlich blass aus. Abwechselnd streichelte sie dem regungslos Daliegenden die Stirn und dann seine Hand. Auch wenn sie sich Mühe gab, sehr gefasst zu wirken, war ihrem Gesicht die Anspannung deutlich abzulesen.
»Er atmet«, sagte sie jetzt, »sehr schwach, aber er atmet. Bitte tun Sie doch irgendwas! Rufen Sie den Arzt!«
»Wir kümmern uns sofort, Frau Dierksen! Bitte kommen Sie doch«, forderte Angermüller sie auf. Doch sie wollte nicht von der Seite Leboutons weichen. Jansen, der sich ein paar Schutzhandschuhe übergezogen hatte, stieg die kleine Böschung hinunter. Er suchte nach Leboutons Puls, dann nickte er. Angermüller holte sein Handy heraus.
»Frau Dierksen«, versuchte er es noch einmal, als er sein Telefonat beendet hatte. »Der Notarzt ist unterwegs. Bitte kommen Sie doch da unten weg. Sie können jetzt eh nichts tun.«
Doch sie sah nur kurz hoch und schüttelte den Kopf. Verständlicherweise wollte sie ihrem schwer verletzten Freund nicht von der Seite weichen. Das ginge mir wohl genauso, dachte Angermüller. Hinzu kam, dass sie auf die Kommissare sicherlich nicht gut zu sprechen war, die noch vor Kurzem angenommen hatten, dass Pierre Lebouton triftige Gründe hatte, sich bei Nacht und Nebel abzusetzen. Also sagte Angermüller nichts mehr und begann, sich umzusehen. Jansen war losgerannt und brachte eine Decke aus dem Wagen. So gut es ging, hüllten sie Lebouton vorsichtig damit ein.
»Hatte er einen Unfall?«, fragte Hilde Dierksen die Beamten. »Das muss irgendwann heute Morgen passiert sein, denn gestern Abend hat er andere Sachen getragen. Oh Gott, diese Kälte! Zum Glück hat er wenigstens seine dicke Jacke an.«
»Unfall? Glaub ich nicht«, sagte Jansen nur, aber sie schien eh keine Antwort erwartet zu haben und fuhr wieder fort, Leboutons Hände zu streicheln und zu drücken. So erledigten sie die erste Inaugenscheinnahme des Opfers und der Auffindungsumstände mit Hilde Dierksen an Leboutons Seite. Sie hatte nur Augen für den am Boden Liegenden.
»Kannst du irgendwas sehen, was mit ihm passiert ist, Claus?«, fragte Angermüller.
»Ich will ihn jetzt nicht so sehr bewegen, aber ich denke, jemand hat ihm auf den Schädel gehauen, und zwar ziemlich doll.«
Etwas mehr Zartgefühl in der Wortwahl wäre in dieser Situation gar nicht schlecht, ging es Angermüller durch den Kopf. Aber Hilde Dierksen achtete nicht auf die Vorgänge um sie herum. Jansen ging in die Knie und tupfte vorsichtig mit dem Finger an den Hinterkopf.
»Da ist eindeutig Blut, nicht viel und schon etwas angetrocknet. Muss also schon ’ne Weile her sein.«
Angermüller sah sich um. Dass man sich hier auf der Kehrseite des eleganten Kavaliershauses befand, war sprichwörtlich. Die Fenster im Erdgeschoss waren zum Teil recht lieblos mit Sichtblenden zugenagelt, Müll lag herum, Kippen, leere Zigarettenschachteln, ein alter Kessel, ein kaputter Einkaufswagen.
»Ich
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