Köhler, Manfred
als inzwischen üblich bei der Gestaltung seiner Seite 2; aber schon ein unerwünschter Termin genügte ihm bald, der kleinste Anlass auch in anderen Lebensbereichen, um seine Wut auf andere umzulenken, auch und zuweilen gerade auf Menschen, denen er viel zu verdanken hatte. Sein Roman wurde ihm zum Rettungsanker, zur letzten Zuflucht vor der Schlechtigkeit der Welt, und er war ihm zugleich Ausdruck seines vergeudeten Lebens: Wieder einmal war er dabei, einen Großteil seiner Stunden in ein nutzloses Machwerk zu stecken, das keiner würde lesen wollen, es war einfach nicht gut genug. Was unterschied ihn denn von den Hobby-Menschen und Dampfplauderern, über die er wohlwollend geschrieben, aber die er immer als Zeitverschwender belächelt hatte? Ob er nun Briefmarken sammelte, Tauben züchtete, eine Eisenbahnlandschaft gestaltete, sich in der Kneipe nebenan einen Bierbauch ansoff oder eben seine Gedanken auf bestimmte Weise strukturiert in den Computer tippte und als Manuskript ausdruckte, heraus kam immer das Gleiche: ein greifbares Symbol nutzlos geronnener Lebenszeit.
Wäre er nur frei und hätte er genug Muse, dann freilich würde ihm eine herzeigbare Geschichte gelingen, eine, die anderen Menschen etwas geben und ihm endlich mal Geld einbringen würde. Wasser kochte nun einmal nicht bei 95 sondern bei 100 Grad – dabei waren es mehr als nur fünf Grad Lebensenergie, die ihm die Rundschau täglich aus dem Leib saugte. Der so wohlmeinende und bewegende Abschiedsbrief Siegmar Sarburgers erschien ihm auf einmal wie blanker Hohn: Ganz bewusst hatte der ihm ein vergammeltes Foto vermacht statt eines Geldbetrages. Nicht, dass er etwas hätte erben wollen oder gar der Meinung gewesen wäre, dass ihm etwas zugestanden hätte, aber es war eine Frechheit von diesem verwahrlosten alten Säufer, ihm das Geld vor die Nase zu halten, um es ihm dann bewusst zu verweigern und ihm auch noch weismachen zu wollen, das sei zu seinem Besten. Das gerahmte Foto verschwand in der untersten Schreibtischschublade, er konnte diesen großkotzigen Besenschwinger nicht mehr sehen.
Bis er es mit dem letzten Freund und Bekannten verdorben und bis er das letzte bisschen Zuneigung für lebende und tote Menschen in sich dem Säurefraß seiner aus Unzufriedenheit und Selbsthass konstruierten Anklagen und bitteren Vorwürfe ausgesetzt hatte, trieb sich Lothar Sahm tiefer und tiefer in den Widerspruch zwischen dem, was er wollte und sich nicht traute, und dem, was er hatte aber nicht wollte – bis er eines Samstagnachmittags Ende Oktober, es dämmerte bereits, bei seinem ihm zur Gewohnheit gewordenen fauchenden und grollenden Stolpern durchs Unterholz der Wallfelder Wälder an einem kleinen Tümpel anlangte. Er stand da eine Weile und brütete eine Idee aus: Hier würde er seinen Abgang inszenieren.
Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sich einfach in seinem Arbeitszimmer aufzuhängen oder sich in der Garage mit Auspuffgasen zu vergiften. Ein Auskneifen auf diesem Weg hätte sein Andenken zerstört, aber gerade daran lag ihm mehr als an dem Bild, das er als Lebender von sich vermittelte. An diesem Tümpel freilich, da konnte er es so aussehen lassen, als sei er beim Joggen in der Dämmerung gestolpert, auf den Kopf gefallen und ertrunken. Oder er konnte noch warten bis zum Winter, konnte es dann so darstellen, als sei er auf Schneematsch ausgerutscht, ins Wasser gefallen, zwar noch herausgekrochen, aber in seinen nassen Sachen erfroren. Tragisch würde das aussehen, niemand würde ihm einen Vorwurf machen können.
Einen Vorwurf...!
Was für ein blödsinniger Gedanke für einen, dem doch alles egal genug geworden zu sein schien, das einzige, was er wirklich besaß, das Wertvollste, sein Leben, zu verschleudern. Nicht mal im Tod war einer wie er also bereit, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Was wäre denn erreicht, würde er sich davonstehlen aus diesem Leben? Er hätte sich darum gedrückt, eine Entscheidung zu treffen. War denn seine Angst vor Fehlverhalten, Niedergang und Blamage wirklich größer als seine Angst vor dem Tod? Offenbar, da er nun so weit war, sich nicht das Geringste mehr von der Zukunft zu erhoffen, konnte er sein unvermeidliches Ende doch aufschieben und schauen, was passieren würde, ginge er das Risiko ein, das er so fürchte. Es konnte sich, immerhin, ja alles auch zum Besten wenden.
Aus dieser Einsicht, das Ende in der Hand zu haben, nicht nur Spielball, sondern auch Gott seines Schicksals zu sein und
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