Köhler, Manfred
jederzeit die eigene Schöpfung abbrechen zu können, wenn sie sich als endgültig misslungen erwiesen hätte, gewann Lothar Sahm eine ungeahnte Kraft. Diese Kraft war so tief und allumfassend, sie war das Gegenteil eines verzweifelten Impulses, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Er schmiss nicht einfach hin, er optimierte seinen Ausstieg. Er zwang sich fortan, beim Einkaufen Preise zu vergleichen, bei Sonderangeboten hortete er. Das Gerümpel auf seinem Dachboden – alte Möbel, Comic-Heftchen, die Schallplattensammlung seines Onkels – gab er nicht kurzerhand zum Sperrmüll, wie es am Bequemsten gewesen wäre, er nahm zwei Flohmarkt-Tage auf sich und spülte damit knapp 300 Euro in seine Kriegskasse. Kleinigkeiten waren das und Selbstverständlichkeiten, aber er, der sonst handelte wie er gerade ging und stand, sah darin ein nie vermutetes Potential an steigerbarer Mündigkeit.
Als die Mitte des letzten Quartals heran war, ein Zeitpunkt, dem er so sehnsüchtig entgegenstrebte wie er ihn fürchtete und verdrängte, lud er Liane Czibull zum Essen in die Altstädter Pizzeria ein, eines der Edel-Lokale von Wallfeld. Kaum hatte er die Einladung ausgesprochen, bereute er sie schon. Denn sie freute sich so offensichtlich darüber, dass ihm die Fallhöhe zwischen Anschein und Anlass unzumutbar vorkam. Vielleicht wäre eine knappe Information in ihrem Arbeitszimmer angemessener gewesen.
Aber vielleicht war es gerade gut so. Er war nun gezwungen, sich gründlich vorzubereiten, noch einmal sein Ziel und seine Pläne zu hinterfragen und seine Motive in Form von Argumenten anzuordnen, alle Gegenargumente vorwegzunehmen, um sie gleich im vornherein zu widerlegen, also eine faire Diskussion mit seiner Chefin zuzulassen, aus der er als geachteter Sieger hervorgehen würde, statt ihr einfach seinen Beschluss zu verkünden. Sie hatte es verdient, fand er, tatsächlich einbezogen und nicht nur unterrichtet zu werden.
Er kratzte für diesen Abend alles an zwischenmenschlicher Psychologie zusammen, was ihm im Laufe seiner 17 Berufsjahre als nützlich untergekommen war. Eine halbe Stunde vor der Zeit saß er am Platz, um sich als Gastgeber fühlen zu können, das würde ihm Sicherheit geben. Er würde zunächst ganz privat mit ihr plaudern, ihr die Träume entlocken, die ihrem Leben Richtungsgeber waren, und sie damit öffnen für seine Überzeugung, dass man seinen Sehnsüchten zu folgen hatte statt seiner Vernunft, unbedingt und egal was ihnen entgegensprach. Das war seine Botschaft für sie: Ich habe mich entschlossen, meinen Träumen zu folgen; das Wort Kündigung war an diesem Abend nicht vorgesehen.
Sie kam, wie es zu ahnen gewesen war, weit vor der Zeit und war erstaunt, ihn schon anzutreffen. Eine halbe Stunde zu früh, das war ihm arg übertrieben vorgekommen. Es hatte gerade ausgereicht, sich vom Chef des Hauses über die Menüauswahl und den passenden Wein beraten zu lassen. Nun konnte er den erfahrenen Gourmet vorgeben. Sie kam, reichte ihm die Hand, lächelte, war ganz Dame. Der kaugummikauende Gaul mit Kuhfladentasche, der zigarettenrauchschnaubende Drache, die warzennasige Hexe, so hatte er sie kennengelernt; die kompromisslose Karrierefrau, die strenge aber loyale Chefin, die freundschaftliche Kollegin, so war sie ihm vertraut geworden; nun gab sie ihm abermals zu staunen: Sie konnte elegant sein, für ihre Verhältnisse ganz gut aussehen und sogar verlockend riechen. Sie konnte charmant sein. Sie würde ihn verstehen.
Er hatte erwartet, so wie er sie kannte, dass sie mit dienstlichen Belangen eröffnen und dass der Abend irgendwie immer die Rundschau zum Thema haben würde. Er hätte dann den roten Faden nur aufzugreifen und ihn in seine Richtung zu ziehen gehabt. Sie aber machte ihm Komplimente, und zwar ausschließlich undienstliche: dass ihr seine Wahl des Lokals sehr zusagte und dieser treffliche Wein; dass er endlich mal wieder rasiert war und sich die Haare hatte schneiden lassen, dass er sich überhaupt sehr herausgemacht habe, in jeder Hinsicht, vor allem menschlich. Sie bot ihm das Du an, das dauerhafte nach all dem Hin- und Herspringen zwischen Sie und Du in den letzten Monaten.
Als er nach den Antipasti in Richtung ihrer privaten Vorlieben und Wünsche zu dringen begann, landete man schnell bei der Rundschau. Was sie jetzt mache, das habe sie sich immer ersehnt in all den Jahren als Boulevard-Reporterin: ein eigenes Büro, eine verantwortliche Position und wenigstens ein Mitarbeiter, auf den
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