Köhler, Manfred
du?“
Er beglückwünschte sie. Er zwang sich, ihre Euphorie wenigstens annähernd zu teilen. Er hatte sie sanft abzuwimmeln, als sie schon anfangen wollte, regelmäßige abendliche Treffen zum Zwecke der Strategieplanung anzusetzen. Er stellte fest, erstens, dass ihm nichts so egal war wie das gegenwärtige oder künftige Layout wie auch Leitbild der Wallfelder Rundschau, keine Sekunde seiner wertvollen Zeit wollte er dafür opfern; er stellte fest, zweitens, dass er um nichts in der Welt gewagt hätte, ihr das ins Gesicht zu sagen.
So saß er noch immer vor seinem Fluss und wartete darauf, dass ein Boot des Weges käme, ihn hinüberzusetzen. Er war bereit dafür, und die Zeit drängte. Je älter er wurde, desto ferner rückte ein Neuanfang. Doch es kam kein Boot, und es schlug sich auch keine Brücke aus dem Nichts.
Statt dessen erschien ihm der Strom immer unheimlicher und reißender – als hätte sich alle Welt verschworen, ihm an seinem Entschluss zu zweifeln zu geben. Eine seiner Großmütter hatte Geburtstag in diesen Tagen. Er gratulierte telefonisch, die Feier würde am Wochenende stattfinden. Sie kam bei dem kurzen Telefonat darauf zu sprechen, wie stolz sie auf ihn sei, er habe etwas aus sich gemacht und sich in einem respektablen, krisensicheren Beruf durchgesetzt. Er sagte nicht viel dazu, schon gar nicht, dass er etwa vorhabe, diesen Beruf hinter sich zu lassen. Aber was er sagte und wie er es sagte, gab ihr Anlass, ihn eine halbe Stunde später noch einmal anzurufen, ziemlich aufgelöst, und ihm seine Ausstiegspläne auf den Kopf zuzusagen, sie ihm als Unsinn und von so neumodischem Zeugs wie dieser – wie hieß das Ding noch, Midlife-Crisis? – verursacht zu widerlegen und ihn zu beknien, nicht in schweren Zeiten wie den heutigen, in denen so viele unverschuldet auf der Straße saßen, aus freien Stücken einen sicheren Arbeitsplatz aufzugeben. Was, wenn er doch noch irgendwann heiraten wollte?
Wäre es nicht gerade diese alte Frau gewesen, hätte er gerade sie nicht so besonders gemocht, er hätte gegen solcherlei Argumentation angefetzt und sie sogar zum Anlass genommen, seinen Plan endlich in die Tat umzusetzen. So aber lag er wach in dieser Nacht und hatte Sodbrennen den ganzen nächsten Tag.
Dann Liane Czibull mit ihrem neuen Layout. Sie rief ihn zu sich, ihren vermeintlichen Mitverschwörer, und unterbreitete ihm detailliert ihre noch streng geheimen Pläne. Ein neues Computerprogramm würde eingeführt werden müssen. Um damit vertraut zu werden, würden mindestens vier Samstagsschulungen der Umstellung voraus gehen müssen. Auch nach vollzogenem Neuanfang würde der Mehraufwand für alle Mitarbeiter und natürlich gerade für ihn und sie dauerhaft steigen. Deshalb würde sie klug den Zeitpunkt wählen und vor allem mit Argumenten gewappnet sein müssen, schließlich war ihr Widerspruch der Mitarbeiter schon allein deshalb gewiss, weil sie Liane Siebl war, die allgemein Verhasste.
Noch nie hatte Lothar Sahm eine Adventszeit so intensiv gefühlt wie jetzt, da er sie aufs Engste verknüpft mit seinem persönlichen Countdown herannahen sah. Bis zum 15. November würde er sich entscheiden müssen! Einen 15. Februar oder einen 15. Mai gab es für ihn nicht mehr – jetzt oder nie. Er schob in seinem Lieblings-Supermarkt einen Einkaufswagen durch Regale mit bunt glitzernder Stanniol-Dekoration: Weihnachtsmänner, Sterne, Weihnachtsschokolade aller Art, Lebkuchen, Weihnachtstaler. Sarahs tiefes Empfinden für Heiligabend-Romantik hatte er niedlich gefunden, aber nicht eigentlich an sich herangelassen. Jetzt auf einmal, da er sich im Begriff sah, sich selbst aus der bunten, lieblichen Welt ausschließen und einsam ohne Geld in der Kälte daneben zu stehen, entwickelte er einen Sinn für Kerzenlicht, Adventskalender und sternenklare Winterhimmel über verschneiten Häusern mit hell erleuchteten Fenstern und wattig-weißen Rauchsäulen über den Kaminen. Diese Weihnachtswelt gehörte denen, die sich mit einem sicheren Beruf und einem gefüllten Geldbeutel Teil dieser Gesellschaft nennen konnten – nicht denen, die auf ihrer eigenen Bahn zu ihren eigenen Sternen unterwegs waren, die kein Geld für Weihnachtsgeschenke hatten und daher auch keine bekommen würden. Die Rundschau-Version von Weihnachtszeit mit ihrem Landrat-Bierkrug, ihren kleinen Geschenken von Firmen aus Dank für gute Zusammenarbeit, was nichts anderes hieß als in Erwartung von weiterhin wohlwollender und ausführlicher
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