Köhler, Manfred
Berichterstattung, den Einladungen zu Weihnachtsbesäufnissen im Rathaus, im Landratsamt und traditionell am 23. Dezember in der Redaktion selbst – er würde all diese ihm verhassten Rituale vielleicht das 17. Mal, aber kein 18. Mal erleben, was ihm schier das Herz brach.
In seiner Not, seiner Angst vor dem Unbekannten, scharte er noch einmal alles als Rechtfertigungen dafür um sich, die unausweichliche Entscheidung Gott sei Dank doch nicht treffen zu müssen: seine vermeintliche Verpflichtung Liane Czibull gegenüber, seinen Eltern und seiner Großmutter gegenüber, die Tatsache, dass ihm ein objektiver Ratgeber fehlte – und was ergab sich daraus? Er saß noch immer an diesem Fluss, allein, und noch immer kam kein Boot. Entweder würde er da hocken bleiben bis zum Ende seines Lebens, oder er würde endlich den Mut aufbringen müssen, sich nass zu machen.
Der 14. November war ein großer Tag für Liane Czibull. Eine Woche früher als erwartet hatte sich der Repräsentant der Software-Firma, bei der sie das neue Layout-Programm bestellt hatte, für diesen Vormittag bei ihr angemeldet. Erstmals würde sich zeigen, ob ihre mit Bleistift und Papier erdachten Entwürfe mit diesem Programm so mühelos in der Praxis umzusetzen waren wie sie sich das erhoffte. Natürlich wollte sie in diesem großen Augenblick Lothar Sahm an ihrer Seite haben. Er sollte, wie sie, von Anfang an mit dem Programm vertraut gemacht werden, um später in den Samstagsschulungen die anderen Mitarbeiter unterweisen zu können. Eine halbe Stunde vor dem Termin mit dem Software-Experten rief sie ihn zu sich.
„Heute ist es so weit!“, begrüßte sie ihn strahlend in ihrem Büro. Er zwang seine Leichenbittermiene zu einem wohlmeinenden Lächeln, aber sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist denn passiert?“
„Ich muss mit dir reden.“
„Wenn es was Größeres ist, dann vielleicht lieber heute Nachmittag, gleich kommt nämlich...“
„Nein, was ich dir sagen muss, kann nicht warten, weil...“
Seine Stimme schwankte, unkontrolliertes Atmen machte sie brüchig. Er holte tief Luft.
„Weil, wenn ich es jetzt nicht sage, dann... na ja, es muss jetzt sein. Ich mache es auch kurz.“
Er stand da und schaute sie an, seine Arme hingen schlaff herab, er wusste nicht, wohin mit den Händen. Er schnaufte hörbar ein und aus. An seinen Wangen leuchteten blutrote Flecken.
Sie kaute Kaugummi und sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich höre auf.“
„Wie meinst du das? Womit hörst du auf?“
„Bei der Rundschau. Ich kündige.“
Sie nahm ihren Kaugummi aus dem Mund, wickelte ihn in ein Papierchen und warf das kleine Bündel mit einem Plopp in den Mülleimer. Sie wühlte in ihrer Kuhfladen-Tasche, zog ihren Geldbeutel hervor, entnahm ihm einen kleinen Schlüssel. Sie stand auf, ging zum Büroschrank, zog sich einen Stuhl heran, stieg hinauf, reckte sich, kam so gerade an das oberste, verschließbare Fach, sperrte es mit dem Schlüssel aus ihrem Geldbeutel auf, öffnete das Schubfach und holte sich daraus ein Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten. Sie stieg vom Stuhl, ging wieder um den Schreibtisch herum, setzte sich und steckte sich eine Zigarette an. Sie nahm einen tiefen Zug, hielt den Rauch an wie ein Taucher wertvollen Sauerstoff und stieß ihn nach zehn, fünfzehn Sekunden erst durch Mund und Nase hervor.
„Eigentlich bin ich am Abgewöhnen“, erklärte sie, mit dem kleinen Schlüssel spielend und ohne Lothar Sahm aus den Augen zu lassen, „damit ich für die Umstellungsphase belastbarer bin.“
Sie nahm einen weiteren Zug. Noch tiefer, noch langanhaltender, noch schnaubender. Ihr Blick in Lothar Sahms Gesicht war nicht wütend oder vorwurfsvoll, auch nicht freundlich-interessiert, mitfühlend, teilnehmend, eher eine Mischung aus allem und noch viel mehr. Eine große Explosion lag in der Luft, aber erst mal brannte die Lunte, man konnte nicht sehen, wie lang und verschlungen sie war.
„Du wechselst zu einer anderen Zeitung?“
„Nein, das wäre doch... nein, das nicht.“
„Zum Radio oder zum Fernsehen?“
„Ach woher, nein, ich habe keine andere Stelle in Aussicht. Ich hänge den Beruf an den Nagel. Ich, na ja, will was Neues anfangen.“
„Was Neues also. Hier in Wallfeld?“
„Ja, um es kurz zu machen, ich will versuchen, ob ich nicht vom Bücherschreiben leben kann.“
„Vom Bücherschreiben...“
Sie saugte an ihrer Zigarette, blies ihm den Rauch entgegen.
„Also los jetzt, sag
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