Koenig Arsch - Mein Leben als Kunde
Kein Wunder, dass große Buchversender wie Amazon das virtuelle Buch mit aller Gewalt in den Markt pressen wollen. Bei jedem Amazon-Besuch springt mich das hauseigene Lesegerät »Kindle« an, um mich den gedruckten Büchern abspenstig zu machen.
Als Kunde werde ich aufgefordert, durch einen Klick zu signalisieren, dass ich mir ein gedrucktes Buch auch als E-Book wünsche. Amazon bietet an, dieses Votum an die Verlage weiterzuleiten. Es wird Druck auf diejenigen ausgeübt, die noch drucken wollen – statt E-Books zu verkaufen.
Das greifbare Buch, dessen Ecken sich abstoßen ließen, das Buch, mit dem man sich an heißen Sommertagen Luft zufächeln konnte, das Buch, in dem man als Zwölfjähriger versehentlich einen Cola-Fleck hinterlassen hatte, um ihn dreißig Jahre später mitsamt der Erinnerung an jenen Sommerferientag wiederzuentdecken – dieses Buch schrumpft in der virtuellen Welt zu einem Datensatz zusammen.
Das E-Book hat keinen Eigengeruch, keine Eselsohren, kein Cover, an dem warmer Meeressand haften könnte, keinen Buchrücken, den man unter Hunderten in einem Regal erkennt. Und wenn man es auf die Küchenwaage legt, steht der Zeiger still – denn Datengewicht ist nicht messbar.
Für viele Kunden, auch für mich, ist das E-Book ein Verlust an Sinnlichkeit, an Lesequalität, an Komfort. Eine fantasiereiche Tätigkeit, das Lesen, emigriert an einen Ort, der etwa so romantisch ist wie eine Dose Sauerkraut: an den Bildschirm.
Die Buchportale sehen das anders: Für sie ist das E-Book eine fantastische Möglichkeit, sämtliche Lager- und Vertriebskosten zu sparen. Der verkaufte Gegenstand flitzt vom Server des Vertreibers aufs Lesegerät des Kunden. Diese Dienstleistung kostet die Firmen einen Betrag, der weit unter den Lager- und Versandkosten eines gedruckten Buches liegt.
Doch wie schaffen es die Internet-Versender, mich vom greifbaren Buch wegzulotsen? Der »Kindle« von Amazon bietet die Möglichkeit, Notizen zu machen und Passagen hervorzuheben. Wenn ich zum Beispiel der Meinung bin, ich müsste im Kamasutra eine bestimmte Stellung kommentieren, womöglich mit Verweis auf persönliche Erfahrungen – kein Problem.
Oder doch! Denn meine intimen Notizen auf dem »Kindle«, die ich nicht einmal meinem besten Freund zeigen würde, sind für den E-Book-Vertreiber einsehbar; sämtliche Anmerkungen und Hervorhebungen werden von unsichtbarer Hand an Amazon zurückgeschickt. Durch dieselbe virtuelle Tür, durch die Buchdateien auf mein Gerät spazieren, spazieren meine Gedanken in die andere Richtung hinaus.
Auf diese Weise findet sich mein Intimstes – etwa meine Kamasutra -Hervorhebungen – über das Amazon-Feature »Popular Highlights« im Licht der Öffentlichkeit wieder. Ich kann sehen, was andere über ein Buch denken – aber die anderen sehen auch, was ich denke! Zwar lassen sich die Hervorhebungen nicht meinem Namen zuordnen, aber wenn eine technische Panne passiert …
Ein virtuelles Bücherregal an meinem Bett, von dem ich nicht weiß, welche Hände danach greifen – ein gruseliger Gedanke! Aber stellen Sie sich erst vor, Sie kaufen ein E-Book, wollen es lesen – doch der Verkäufer löscht das Buch von Ihrer Festplatte, ohne Sie zu fragen. Zum Beispiel, weil es politisch nicht mehr erwünscht ist. Oder er zensiert mal eben die Originalausgabe, sodass alles, was brisant war, durch Hofmalerei ersetzt wird.
Unrealistisch, sagen Sie? Das klinge eher nach George Orwells Zukunftsroman 1984 , wo ein perfekter Überwachungsstaat, ein allgegenwärtiger »Big Brother«, beschrieben wird? Spannendes Stichwort! Denn was im Juli 2009 passierte, war eine ironische Pointe, wie sie sich Orwell nicht hätte träumen lassen: Ausgerechnet sein Roman 1984 , der als E-Book von Amazon vertrieben worden war, löste sich über Nacht in Luft auf. Jeder Leser, der ihn auf seinem Reader gespeichert und womöglich mit liebevollen Notizen versehen hatte, glotzte am nächsten Morgen auf einen leeren Bildschirm. 67 Amazon entschuldigte sich bei seinen Kunden: Es habe Probleme mit der E-Book-Lizenz gegeben. Die Käufer bekamen den Preis erstattet. Das E-Book war ihnen einfach entrissen worden.
Aber wo leben wir eigentlich, wenn ein Verkäufer mir mein Eigentum, ein bereits gekauftes Produkt, aus meiner Wohnung angeln kann? Wo leben wir, wenn mein geistiges Eigentum, die Notizen, mir ohne Entschädigung entrissen wird? Und wo leben wir, wenn es mög lich ist, nach Belieben auf intime Lektüre zuzugreifen und die Daten
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