Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
König der Dunkelheit: Roman (German Edition)

König der Dunkelheit: Roman (German Edition)

Titel: König der Dunkelheit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lawrence
Vom Netzwerk:
Kuppel aus Glas, das kein Glas war, und auf einer Scheibe aus Elfenbein, das kein Elfenbein war, stand eine kleine Kirche, umgeben von noch kleineren Häusern. Sogar eine Person sah ich in dem Objekt, und dann noch eine. Und als ich es ins Licht hielt und drehte, überrascht von seinem Gewicht, kam es in
seinem Innern zu einem Schneesturm – plötzlich wimmelte es überall von kleinen weißen Flocken. Ich legte das Geschenk zurück, für einen Moment in Sorge, dass ich es irgendwie beschädigt hatte. Und o Wunder, der Schneesturm hörte auf, die Flocken sanken zu Boden.
    Inzwischen hat jenes Objekt keinen Zauber mehr. Heute weiß ich, dass geschickte Handwerker etwas Ähnliches in wenigen Wochen zusammenbasteln könnten. Sie würden echtes Glas und echtes Elfenbein verwenden, und ich weiß nicht, was sie für den Schnee nähmen, aber wenn es um die alten Wunder geht: Viele von ihnen erscheinen einem nicht mehr als Wunder, wenn man älter als sechs ist. Doch damals war es Magie, von der besten Art. Gestohlene Magie.
    Ich schüttelte die Schneekugel erneut, und wieder stoben Flocken und bildeten ein weißes Chaos, das Ruhe wich, als sie zu Boden sanken und die kleine Welt unter dem falschen Glas freigaben. Und noch einmal schüttelte ich die Kugel. Es erschien mir falsch, dass Sturm und Durcheinander nichts zu bedeuten schienen. Die ganze Welt in Aufruhr, und für was? Noch immer stapfte der Mann zur Kirche; noch immer wartete die Frau in der Hüttentür. Ich hielt eine Welt in meiner Hand, und wie oft ich sie auch schüttelte, wie die Flocken auch fielen, welche Muster sie auch bildeten, nichts veränderte sich. Der Mann würde die Kirche nie erreichen.
    Schon mit sechs wusste ich vom Hundertkrieg. Ich ließ Holzsoldaten über die Karten meines Vaters marschieren. Ich sah Kämpfer durchs Hohe Tor zurückkehren, blutig und weniger als zuvor, und Frauen in den Schatten weinen, während andere ihren Männern entgegenstürzten. Ich las von den Schlachten, von Angriff und Rückzug, von Sieg und Niederlage, in Büchern, die mir verboten gewesen wären, wenn mein Vater mich
gekannt hätte. Ich verstand alles und wusste, dass ich die ganze Welt in der rechten Hand hielt. Kein Spielzeugland, keine kleine Kirche mit kleinen Menschen, von den Händen der Alten geformt. Die ganze Welt. Und so sehr ich sie auch schüttelte, sie veränderte sich nicht. Im wirbelnden Schnee zogen wir in den Kampf und brachten uns gegenseitig um, griffen an und wichen zurück, und wenn die Flocken zu Boden sanken, war der Krieg immer noch da, unverändert, und wartete auf mich, meinen Bruder und meine Mutter.
    Wenn ein Spiel nicht gewonnen werden kann, muss man das Spiel ändern. Das habe ich im Buch der Kirche gelesen. Ohne einen weiteren Gedanken holte ich mit der Glaskugel aus und zerschmetterte sie auf dem Boden. Dann zog ich den Mann aus den nassen Bruchstücken, kaum größer als ein Weizenkorn zwischen Daumen und Zeigefinger.
    »Jetzt bist du frei«, sagte ich und schnippte ihn in eine Ecke, damit er allein nach Hause fand, denn ich hatte nicht alle Antworten, weder damals noch heute.
    Ich verließ die Schatzkammer, ohne etwas mitzunehmen, und trotzdem fiel es mir schwer genug, am Seil nach oben zu klettern. Ich war müde, aber auch zufrieden. Was ich getan hatte, erschien mir so richtig, dass ich dachte, andere müssten es ebenfalls für richtig halten, und nicht für ein Vergehen, das Strafe verlangte. Mit schmerzenden Armen und voller Roststaub und Kratzer zog ich mich über die Brüstung.
    »Wen haben wir denn hier?« Eine große Hand packte mich am Nacken und hob mich hoch. Offenbar hatten sich die Wächter nicht so ausgiebig über meine Silbermünze gestritten wie von mir erhofft.
    Es dauerte nicht lange, bis ich im Thronraum meines Vaters stand, wo ein schläfriger Knappe die Fackeln anzündete.
Kein Walöl in silbernen Lampen für die Angelegenheit dieser Nacht, nur Pechfackeln, die knisterten und mehr Ruß an die schwarze Decke malten. Sir Reilly hielt mich an der Schulter, sein Panzerhandschuh so schwer, dass er mich nach unten drückte. Wir warteten in dem leeren Raum und beobachteten, wie die Schatten tanzten. Der Knappe ging.
    »Es tut mir leid«, sagte ich. Obwohl es mir keineswegs leid tat.
    Sir Reilly wirkte sehr ernst. »Mir auch, Jorg.«
    »Ich tue es nie wieder«, sagte ich. Auch das war gelogen.
    »Ich weiß«, erwiderte Sir Reilly fast sanft. »Aber jetzt müssen wir auf deinen Vater warten, und er ist kein milder

Weitere Kostenlose Bücher