König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
sie könne nicht allein im Zimmer sein. Starrten dort nicht böse Augen aus der Ecke des Raumes zu ihr hinüber? War dort nicht das leise Rauschen von Flügeln vor dem Fenster zu hören? Drang dort nicht ein Wispern neben dem Schrank zu ihr hinüber? Eleanor erschauerte.
Sie stand auf und ging zum Waschbecken. Dort putzte sie sich die Zähne und zog sich für die Nacht um. Sie starrte in den Spiegel und erstarrte. Wer war nur dieses Mädchen, das sie von dort ansah? Das Mädchen, das die Welt auf dem Gewissen haben würde? Das Mädchen, das die Schöpfung in den Abgrund gerissen hatte? Das Mädchen, das größere Schuld auf sich geladen hatte als alle anderen? Eleanor erschrak, als ihr Gesicht die Züge Liliths anzunehmen begann. War es das, was aus ihr geworden war? Eine andere Lilith? Gefährlich und zerstörerisch?
Mit einem gepeinigten Schrei warf Eleanor ihren Zahnputzbecher gegen den Spiegel. Wasser spritzte zu allen Seiten und lief dann in Schlieren das Spiegelglas hinunter.
„Du hast Glück, dass der Becher nur aus Plastik war“, erklang Raphaels ruhige Stimme hinter ihr. „Wäre er aus einem härteren Material, hättest du den Spiegel kaputt gemacht und müsstest morgen einiges erklären.“
Eleanor wandte sich mit tränenverschmiertem Gesicht zu ihm um und fiel in seine Arme.
„Oh, Raphael“, weinte sie. „Bin ich schuld, wenn die Welt untergeht? Hätte ich euch nicht entdeckt, wäre das doch alles nicht passiert. Es wäre bis in alle Ewigkeit so weitergelaufen. Und jetzt… jetzt…“
Eleanor sank in Raphaels Armen zusammen und weinte hemmungslos. Sie bekam kaum mit, wie er sie sanft wiegte und behutsam streichelte. Auch die wunderbaren Gefühle, die sonst wie in Wellen durch ihren Körper liefen, wann immer sie ihn berührte, heilten jetzt diesen fürchterlichen Schmerz nicht. Einen Schmerz, der sie von innen auffraß und nur Leere und Verzweiflung zurückließ.
„Was sorgst du dich?“, durchdrang Raphaels Stimme nach einer Ewigkeit wie es schien, Eleanors Kummer. „Wie kannst du Angst haben, dass du für all dies verantwortlich sein könntest? Du hast dir nichts von alldem ausgesucht, es hat dich gefunden.“
„Aber ich habe es ausgelöst“, weinte Eleanor schwach. „Wäre ich nicht gewesen…“
„Eleanor! Nichts von dem was geschehen ist, kam durch eine böse Absicht von dir zustande. Du hast doch immer das Beste im Sinn gehabt. Als du William Foltridge erlöst hast, geschah es durch dein Mitleid für eine leidende Kreatur. Als du Samael, Naral und all die anderen gerettet hast, da wolltest du nichts anderes, als ihren Qualen und ihrer Einsamkeit ein Ende zu setzen. Mit diesen Taten beschreitest du Gottes Weg, du handelst nach seinen Geboten und seinem Wesen!“
„Und trotzdem bin ich an allem schuld, was jetzt an Bösem über die Welt kommt!“, schluchzte Eleanor.
Raphael blickte Eleanor ernst an. Er hob ihr Gesicht und zwang sie, ihn anzusehen. Tränenüberströmt blickte sie in seine Augen.
„Eleanor! In dieser Welt gibt es weitaus mehr Bösartigkeit und Finsternis, als du glaubst. So viele Mächte wollen diese Welt in Flammen sehen, wollen erleben, wie sie Stück für Stück auseinander bricht, bis nur mehr toter Staub und Dunkelheit zurückbleiben. Hassprediger, gierige und verdorbene Machtmenschen, gewissenlose Menschenverderber. Sie sind es, die die Welt in den Abgrund reißen werden. Du magst ihnen unbeabsichtigt eine Tür geöffnet haben. Aber sie waren es, die hindurch gegangen sind!“
Juda Iskariot
Die Gemeinschaft um Jeshua war heute früh aufgebrochen. Sie hatten das kleine Dorf verlassen, in dem sie die vergangene Nacht verbracht hatten. Nun waren sie auf dem Weg zu der nächsten Ortschaft, um dort neue Wunder zu erleben.
Gestern hatten sie gesehen, wie Jeshua einem blinden Mädchen das Augenlicht zurückgegeben hatte. Die Dörfler hatten diese Tat wie ein göttliches Wunder aufgenommen. In den Augen der Jünger Jeshuas hingegen war es fast eine Kleinigkeit gewesen. Noch immer sprachen sie über die Wiedererweckung der toten Rebecca, der Tochter des Jaïr. Was sie dort gesehen hatten, ging weit über alles hinaus, was ihnen begreiflich schien. Dagegen war das Heilen von Krankheiten trotz seiner Großartigkeit etwas Geringes.
An diesem Morgen wanderte die kleine Gruppe einen schmalen steinigen Bergpfad entlang, der nur Platz für zwei Mann nebeneinander ließ. An der Spitze gingen Jeshua und Juda, die anderen folgten in unregelmäßigen
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