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König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)

König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)

Titel: König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Conrad
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stimmten andere Kinder in das Gelächter ein. Die Tür des Hauses öffnete sich und eine Schar von vielleicht fünfzig Kindern stürmte in den Garten hinaus, verteilte sich dort johlend und glücklich schreiend zwischen den verwilderten Bäumen und Büschen. Einige jagten sich gegenseitig, andere ließen sich in der kleinen Sandkiste nieder oder stellten sich an der einzigen Schaukel im Garten an, die etwas schief am Ast eines verkrüppelten Baumes hing.
    Eine Weile sah Raphael dem Treiben dort unten verwundert zu. Obwohl er wusste, dass die Kinder ihn nicht sehen konnten, hielt er sich instinktiv hinter dem bröckelnden Schornstein auf dem Giebel des Daches verborgen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die unbewusst wohl eher Liliths angeblicher Anwesenheit geschuldet war, als den Menschen, die dort in der Stadt zu seinen Füßen lebten.
    Plötzlich jedoch kam Unruhe in die Kinderschar des Waisenhauses. Zunächst konnte Raphael nicht erkennen, was dort unten vor sich ging, denn von seiner Position aus waren einige Stellen des Gartens durch Bäume und Büsche vor seinem Blick verborgen. Dann aber begriff er, dass eines der Kinder bei der Schaukel sich wehgetan haben musste. Lautes Kinderweinen drang von dort und nun liefen zwei andere Kinder von dort aus zum Haus hinüber – zweifellos, um jemandem Bescheid zu sagen. Die beiden hatten die Tür noch nicht ganz erreicht, als sie sich öffnete und eine junge Frau herauskam. Raphael glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Diese Frau war Lilith.
    Zielstrebig und mit ernstem Blick lief sie auf die Kinder bei der Schaukel zu, während jene zwei, die ihr bereits entgegengekommen waren, um sie herum sprangen und aufgeregt von der Ursache des Tumults erzählten.
    Lilith verschwand unter den Bäumen und Raphael wandte den Kopf zur Seite, um besser hören zu können. Eine Weile vernahm er nichts, auch die Kinder hatten nun aufgehört, durcheinander zu reden. Doch dann trug die warme Luft leise Töne an sein Ohr, ein Lied, sanft und beruhigend, zugleich traurig und voll Schmerz. Lilith sang.
    Ein Ruck ging durch Raphaels Glieder. Von einem Augenblick auf den anderen wurden seine Arme und Beine weich. Sein Atem ging schneller und ein merkwürdiges Flattern breitete sich in seinem Bauch aus. Seine Finger krallten sich unbewusst in die Ziegelsteine des Schornsteins und ließen sie mit einem trockenen Knistern zu Staub zerfallen. Nie zuvor glaubte er etwas so Schönes gehört zu haben wie Liliths Stimme, die einem kleinen Kind den Schmerz hinfort sang.
    Sein ganzer Körper spannte sich an, wollte fort von hier und konnte sich doch nicht bewegen. Raphael kannte dieses Gefühl. Er hatte es schon einmal gehabt, als ein ihm unbekanntes Menschenmädchen in seinen Toten Palast eingedrungen war. Jenes Mädchen, von dem er damals noch nicht wusste, dass ihr Name Eleanor war. Seitdem hatte er dieses Gefühl oft in ihrer Gegenwart gehabt, doch nie zuvor gegenüber einem anderen Wesen. Dass ausgerechnet Lilith es in ihm auslösen könnte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen.
    Die Melodie verklang und erst jetzt wurde Raphael bewusst, wie still es auf einmal geworden war. Die Vögel hatten aufgehört zu singen, die Kinder hatten verzaubert gelauscht und selbst der Wind schien einen Augenblick lang still gestanden zu haben. Wie in Zeitlupe begann die Welt sich nun wieder in Bewegung zu setzen. Der erste Vogel begann zögernd zu zwitschern, die Geräusche der Stadt erhoben sich wieder und ein sanfter Wind streichelte Raphaels Gesicht.
    Lilith musste irgendetwas getan haben, denn urplötzlich lachten und kreischten die Kinder vergnügt auf, sie begannen wieder umherzulaufen und eroberten den Garten für sich zurück, als sei nie etwas gewesen. Dann trat auch Lilith aus dem Schatten des Baumes heraus und ging wieder auf das Haus zu. Raphael sah ihr gebannt nach. Sie mochte in der Gestalt eines Menschen sein, doch selbst jetzt noch verrieten ihre Bewegungen die natürliche Eleganz und Überlegenheit, die in ihr steckte und ein Teil von ihr war. Raphael fragte sich unbewusst, ob nicht auch alle anderen diese Art sich zu bewegen als verräterisch und für einen Menschen vollkommen unnatürlich erkennen mussten.
    Lilith indes hatte die Tür des Hauses fast erreicht, als sie plötzlich stehenblieb. Ein kleiner Schauer schien durch ihren Körper zu laufen. Dann wandte sie sich langsam um und starrte direkt zu Raphael hinauf. Dieser stand völlig ungeschützt neben dem Schornstein, unfähig in Deckung zu

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