König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
es gesehen… er rief die Marktwachen und die schnappten mich. Die Kerle behandelten mich grob… da man mich in flagranti erwischt hatte, musste es keinen Prozess geben. Sie schleppten mich zu einem Richtblock und legten meine rechte Hand darauf, um sie gleich an Ort und Stelle abzuschlagen. Ich war so verängstigt, zitterte am ganzen Körper und wehrte mich nicht. Doch dann, gerade als einer der Wächter seine Streitaxt hob, erscholl ein Befehl über den Marktplatz. Es war der König, der zufällig vorbeikam und Zeuge dieser Szene geworden war. Als er mich sah, verlangte es ihn nach mir. Er begnadigte mich und ließ mich in seinen Palast bringen. Doch dort wurde noch am gleichen Abend ein anderer Fürst, der für Friedensverhandlungen gekommen war, meiner ansichtig. Die beiden begannen sich um mich zu streiten. Sie bedrohten sich gegenseitig mit Krieg. Krieg um meinetwillen! Kann man sich so etwas Dummes vorstellen? Damals begann ich diese Art von Männern zu hassen und ich hätte alles darum gegeben, nicht länger Teil einer solchen Welt zu sein. An diesem Abend bekam ich Besuch von Samael. Den Rest kennst du ja.“
Raphael nickte und sah sie aufmerksam an.
„Nachdem Samael mich verwandelt hatte“, fuhr sie fort. „war ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich frei. Plötzlich war ich auf niemanden mehr angewiesen – ein wunderbares Gefühl. Aber es ist wahr, ich habe im Laufe der Jahrtausende mehr als einen Mann für den Zorn bestraft, den ich noch immer in mir spüre.“
„Ich verstehe“, erwiderte Raphael mit rauer Stimme.
Eine Weile sagte keiner ein Wort. Der kühle Nachtwind strich über das Dach, die Geräusche der Stadt waren leiser geworden und vollkommen in den Hintergrund getreten.
„Mir ist vollkommen klar, dass es am Tag des Jüngsten Gerichts genug Gründe für Gott geben wird, meine Seele zu vernichten. Ich habe Menschen gequält, getötet, habe das Geschenk des Göttlichen Feuers missbraucht und mich außerhalb jeder Ordnung gestellt.“
„Was hat es mit den Kindern auf sich?“
Plötzlich schien Lilith sich in sich selbst zurückzuziehen. Sie blickte schnell zur Seite, um ihr Gesicht vor Raphael zu verbergen.
„Sie sind rein“, flüsterte sie schließlich mit brüchiger Stimme. „Und sie sind schwach, ebenso, wie ich es war. In dieser Welt kümmert sich niemand um sie…“
„Du sorgst für sie.“
Lilith nickte, fast ein wenig beschämt.
Raphael blickte zum Waisenhaus hinüber. Dort, hinter den hohen, dunklen Fenstern, schliefen in diesem Augenblick fünfzig Kinder. Ihre unschuldigen Kinderseelen durchwanderten riesige Traumwelten, flogen durch die unermesslichen Weiten zwischen den Sternen, frei und sorgenlos. Wenn diese Kinder morgen früh erwachten, würden sie noch immer frei und sorgenlos sein – nur in einer anderen, einer realen Welt eben. Lilith sorgte dafür. Eben jene Lilith, vor der so viele Engel in Wut zurückwichen, ihr den Tod wünschten und sie verachteten. Jene Lilith, die für den Tod und das Leiden zahlreicher Menschen verantwortlich war. Raphael verstand die Welt nicht mehr. Es war mehr als offensichtlich, dass Lilith nicht nur die eine Seite hatte, die er zu kennen geglaubt hatte.
„Ich verstehe das nicht“, gab er schließlich zu. „Seit wann tust du das?“
Er deutete zum Waisenhaus hinüber. Und dieses Mal dauerte es sehr lange, bis Lilith die Stille durchbrach und antwortete.
„Ich hatte die Einsamkeit so satt“, flüsterte sie sehnsüchtig. Sie schien Raphael kaum noch wahrzunehmen. „Ich habe mich Tausende von Jahren nach etwas gesehnt, was ich nicht haben kann. Wenn ich mit den Kindern zusammen bin, ist es ein wenig besser. Wenn sie lachen, geht es mir gut…“
Raphael nickte. Er war sich nicht sicher, doch er glaubte in der Dunkelheit eine Träne über Liliths Wange hinab rinnen gesehen zu haben.
„Was hast du für ein Problem mit Eleanor?“, fragte er schließlich.
Ein Ruck ging durch Liliths Körper und sie starrte ihn zornig an.
„Sie hat das, was ich will und nicht habe“, stieß sie erregt hervor. „Machen wir uns doch nichts vor. Nach dem, was Eleanor mit Samael und den anderen gelungen ist, hat sie ihren Platz im Himmel vollkommen sicher. Sie muss keine Angst davor haben, irgendwann vor den Schöpfer zu treten. Und als wäre das nicht genug, hat sie dich!“
Raphael blickte sie fassungslos an. „Wie meinst du das?“
„Verdammt, Raphael. Bist du so blind? Du würdest für sie dein Leben geben. Ohne Zögern
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