König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
gehen. Er sah das Funkeln in ihren Augen, doch zugleich ging eine ungewöhnliche Wandlung in ihr vor. Ihr Gesicht, das zunächst zornig gewirkt hatte, entspannte sich, als sie Raphael erkannte. Von einem Augenblick auf den anderen wirkte sie nun verletzlich und klein. Selbst ihre Schultern hingen schwach herunter, ein Anblick, der Raphael einen Stich durchs Herz sandte.
Lilith blickte betreten zu Boden, dann zwang sie sich erneut zu Raphael emporzublicken und gab ihm durch eine Geste zu verstehen, dass er warten solle.
Die ersten Sterne funkelten schon am Himmel, als sich die Tür des Waisenhauses wieder öffnete. Den ganzen Tag über hatte Raphael still hier oben auf dem Dach gewartet und beobachtet. Er hatte gesehen, wie die Kinder nach der Spielpause im Garten zurück ins Haus gerufen worden waren. Dabei hatte er noch einmal einen kurzen Blick auf Lilith erhaschen können, doch sie hatte ihn nicht mehr angeblickt. Die Kinder hatten zu Abend gegessen, noch eine Weile im Haus gespielt und waren anschließend bettfertig gemacht worden. Und noch einmal hielt die Welt im Umkreis des Hauses den Atem an, als Lilith die Kinder in den Schlaf sang. Diesmal trieb es Raphael die Tränen in die Augen, ein Gefühl, das vollkommen neu für ihn war. Bis heute Abend hatte er nicht gewusst, dass ihn etwas zu Tränen rühren konnte.
Das Klappen der Tür riss ihn schließlich in die Wirklichkeit zurück. Er starrte zum Haus hinunter, wo Lilith gerade die kleine Treppe zum Garten hinunterlief.
Sie sah sich in der Dunkelheit des Gartens um, eine Wollstola eng um sich geschlungen. Dann jedoch ließ sie die Stola achtlos zu Boden fallen und breitete die Arme weit aus. Ein Leuchten und Funkeln lief durch ihren Körper, schien ihn in Flammen aufgehen zu lassen, während sie zugleich ihre brennenden Flügel entfaltete. Von diesem Augenblick an war sie für die Menschen nicht mehr sichtbar, solange sie es nicht wollte. Mit wenigen, kräftigen Flügelschlägen erhob sie sich in die Luft und flog auf Raphael zu. Einige Meter neben ihm ließ sie sich auf dem Dachfirst des Hauses nieder und blickte ihn mit funkelnden Augen zornig an. Mehr denn je sah sie in seinen Augen atemberaubend aus.
„Was tust du hier?“, zischte sie, während sie in Angriffshocke ging und ihr Gegenüber fixierte. Raphael entging dabei nicht, dass sie sich zwischen ihn und das Haus schob, zweifellos wollte sie ihm den Zugang zum Haus abzuschneiden.
Er starrte sie verwirrt an. Heute Nachmittag im Garten hatte sie nicht so angriffslustig gewirkt.
„Ich habe einige Fragen an dich“, sagte er schließlich.
Lilith legte den Kopf schief. Sie wartete auf das, was jetzt kommen würde.
„Was tust du hier?“, fragte Raphael endlich, obwohl er sicher nicht dieser Frage wegen gekommen war.
„Was geht dich das an?“, erwiderte Lilith zornig. „Stell mir die Fragen, wegen derer du eigentlich gekommen bist und dann scher dich fort von hier.“
Raphael zögerte. Er blickte sich um, nahm die Geräusche und Lichter der Stadt in sich auf, die mehr und mehr in der Dunkelheit des Abends versank.
„Du hast Eleanor bedroht“, stellte er fest.
„Habe ich das…?“
„Ja. Auf dem Weg von Bude nach Stratton warst du neben dem Bus, in dem sie saß. Dann hast du ihr vor Stratton Hall aufgelauert und wolltest über sie herfallen.“
Lilith blickte wütend zur Seite.
„Du weißt, dass es stimmt“, stellte Raphael grimmig fest.
„Und?“, fauchte Lilith trotzig.
„Ich will, dass du das sein lässt. Du hast kein Recht, sie zu bedrohen.“
„Kein Recht?“ Lilith lachte offen auf. „Ich bin auf kein Recht angewiesen. Ich nehme es mir, wenn mir danach ist.“
Nun ließ auch Raphael sich in Lauerstellung hinab und fixierte Lilith mit starrem Blick.
„Du hattest Glück, dass ich nichts von dir wusste. Sonst hätte ich dich nicht so einfach davonkommen lassen… so wie jener Angreifer, der dich von Eleanor fortgerissen hat.“
Lilith erstarrte. „Was weißt du darüber?“
„Nicht genug“, erwiderte Raphael bedrohlich. „Wer war es? Raus damit, ich will es wissen!“
„Es war Asasel. Er riss mich über hundert Meter tief in den Wald hinein. Dann ließ er mich los und flog davon. Ich war viel zu erstaunt, als das ich ihm gefolgt wäre. Seitdem habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen.“
Vor Überraschung ließ Raphael sich auf dem Dachfirst nieder. Sämtliche Aggressivität war von ihm gewichen und er starrte Lilith fassungslos an.
„Asasel?“,
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