König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
die Stirn. „Hast du nie versucht, dort an sie heranzukommen?“
„Nein, wozu auch“, erwiderte Turiel, indem er die Arme ausbreitete. „Um sie ernsthaft in Bedrängnis zu bringen, würde ich mich nur selbst gefährden. Aber mir ist mein eigenes Leben lieb – dir hingegen nur das Leben dieser Eleanor…“
Diesmal war es an Turiel, eine Augenbraue hochzuziehen und sein Gegenüber spöttisch anzublicken.
Raphael sah ihn aufmerksam an. Dann nickte er, hob noch einmal grüßend die Hand und wandte sich wortlos ab. Turiel blickte ihm fasziniert nach, während er sich durch die dichte Wolkendecke entfernte.
‚Auf diese Sache sollte ich ein Auge haben .‘, dachte er. ‚Eleanor könnte der Sargnagel für Lilith sein, auf den die Welt der Engel seit Jahrtausenden gewartet hat. Und Raphael wird der Hammer sein, der den Nagel einschlägt!‘
Dragowicze war tatsächlich so enttäuschend, wie Raphael vermutet hatte. Eine Kleinstadt, grau und gesichtslos. Um den Marktplatz standen noch einige Häuser aus dem siebzehnten Jahrhundert, heruntergekommen und baufällig. Nur einen Steinwurf weiter aber begannen bereits die trostlosen Betonbauten der Nachkriegszeit. Kein Ort, an dem man gerne lebte. Wer hier gestrandet war, hatte eigentlich schon verloren. Die Arbeitslosenquote lag bei über fünfundzwanzig Prozent, Kriminalität, Drogen- und Alkoholkonsum bestimmten das soziale Leben der Stadt. In jeder Hinsicht war dieser Ort ein Sumpf, ein Dschungel, in dem der Schwächste verloren ging.
Beim Anblick der tristen, anonymen Häuser lief ein Schauer über Raphaels Rücken. Was mochte es mit Lilith in einem Waisenhaus an diesem Ort auf sich haben? Diese Stadt war so weit von jeder Art von Macht entfernt, wie es nur möglich war. Und in ihr waren die Kinder die Schwächsten, die Kinder, bei denen Lilith sich aufhielt. Was um Himmels willen ging hier vor sich?
Raphael sank tiefer und landete auf einem der Dächer im Stadtzentrum. Er sah sich um, doch nirgends entdeckte er einen Hinweis auf das Waisenheim. Schließlich erhob er sich wieder in die Luft, um einige hundert Meter weiter unentdeckt in einer Seitengasse zu landen. Dort nahm er seine menschliche Gestalt an und war nun für jeden sichtbar. Er ging zwischen den engen, finsteren Häuserwänden entlang zur Hauptstraße und sprach die erstbeste Passantin an, eine schlampig aussehende Frau Mitte Vierzig mit fettigen Haaren, unreiner Haut und verfärbten Zähnen. Tatsächlich hatte er Glück. Die Frau kannte das Waisenhaus und versorgte ihn mit einer Wegbeschreibung, die ihn zweifellos ans Ziel führen würde.
Rund fünfzehn Minuten später erreichte er die Straße, die sie ihm genannt hatte. Er befand sich hier bereits am Stadtrand von Dragowicze. Auch an diesem Ort beherrschten unansehnliche Betonburgen das Stadtbild und arbeitslose Männer saßen mit mürrischen Mienen in finsteren Hauseingängen. Ein paar vernachlässigt wirkende Kinder spielten im Rinnstein, Kinder ohne Zukunft und ohne einen Platz im Leben. Raphael fröstelte bei diesem Anblick. Auch für die Lebenden konnte die Welt eine Hölle sein und Dragowicze war unzweifelhaft ein Ort, der es an Trostlosigkeit mit der Hölle der Toten aufnehmen konnte.
Hier musste es sein – das verrostete Blechschild am Gartentor ließ das Wort ‚Waisenhaus“ kaum noch erahnen, doch Raphael wusste ohnehin, dass er hier richtig war. Er bog in eine Seitenstraße ein, vergewisserte sich noch einmal, dass er unbeobachtet war, und verwandelte sich in die Gestalt eines Engels zurück. Nun vor den Blicken Sterblicher geschützt, erhob er sich in die Luft und ließ sich auf dem Dach eines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite nieder, von wo aus er das Waisenhaus im Blick hatte.
Erst jetzt erkannte er, um was für eine Anlage es sich handelte. Das Waisenhaus von Dragowicze war eine ehemalige Vorstadtvilla aus besseren Tagen, mit großem Garten und einem Haupthaus, das zwar nicht ungewöhnlich groß, dafür aber solide und geschmackvoll errichtet worden war. Und dennoch war auch hier der Verfall überall offensichtlich. Der eiserne Gartenzaum rostete vor sich hin, der Garten war vollkommen verwildert und ungepflegt und am Haus selbst blätterte der Putz ab, während die Farbe kaum noch zu erahnen war.
Raphael legte den Kopf schief. Merkwürdige Dinge waren hier im Gange, dessen war er sich sicher. Und dann plötzlich hörte er es – Kinderlachen.
Zunächst war es nur eine einzige Stimme. Gleich darauf aber
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