König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
und Herr Professor Icks nicht mehr wissen wird, was er Ihnen gesagt hat. Was haben Sie in Ihrem Aufsatz geschrieben? »Hier vergessen alle ihre eigenen Worte und Handlungen so schnell, dass derjenige, der Freude an der Erinnerung hat, besser auf der Rampe auf den Händen, auf dem Kopf geht.« – Und was hab ich soeben getan, Reisender? – Pirouetten gedreht, Kreise gezogen. – Reisender, was hindert dich, jetzt schon in mein Leben zu kommen, als wirkliche Figur? Muss die Zukunft denn vorhersehbar sein? Wie langweilig. – Schlafen Sie, Lina Lorbeer, schlafen Sie. – Auf meinem Sofa, in meinem Zimmer, allein? – Unbedingt.
Wohlig warm ist’s unter meiner Decke, das Fenster geschlossen, und drüben, die Nachbarin, wird schlafen wie ich. Wie sie wohl ihre Tage zubringt? Sie kommt immer so spät nachhause, viel, viel später als ich. Wenn ich nachts erwache, begegne ich nur ihrer Silhouette, ihrer klaren, feinen Silhouette, die im Zimmer hin- und hergeht, wie Dichter und Denker in ihren Zimmern hin- und hergehen und nicht mehr wissen, wie sie die Wirklichkeit dazu veranlassen, zu verschwinden wie ein flüchtiger Gedanke. Ja, haben sie etwa keine Wirklichkeit, wenn sie ihre Schritte von da nach dort, von der einen in die andere Ecke tragen? Und ihre Arme zum Himmel, das heißt zur Decke strecken, weil das viele Schreiten im Zimmer, das Hin und Her und Her und Hin, immer noch keinen Sinn ergibt? Grund genug, ihm einen abzulauschen, im Schlaf nämlich, beim Schlafwandeln vor geschlossenen Fenstern und von Kleidern verhangenen Spiegeln, zwischen Hosen und Pullovern, die, weil sie am Boden liegen geblieben sind, mich immer erinnern müssen. Woran? Womöglich an Köpfe, die in abgewinkelten Armen auf dem Tisch liegen, um eine Stunde ganz blind zu werden, so blind wie ich, wenn ich hier, über Kartons und Bücher und Bilder hinweg, mit von mir gestreckten Armen durchs Zimmer streiche und den Irrtum spiele. Ob’s Menschen gibt, die wirklich so sitzen? Die Nachbarin? Professor Icks? Reisender, ich komme schon wieder hier nicht heraus! – Lina Lorbeer, stehen Sie auf, schieben Sie den Fuß aus dem Hosensaum oder dem Rock oder welcher Kleidung auch immer und stampfen Sie sacht, sacht mit Ihren Füßen auf den Boden! – Aber muss ich denn hier sein, muss ich wirklich hier sein, mit meinen Beinen und Füßen und Armen und Händen? Und wieder hingehen? – Unbedingt, Lina Lorbeer. Gut, dann stehe ich eben wieder auf, stampfe ganz leicht mit meinem Fuß auf den Boden, drehe einen Kreis und wirble durchs Zimmer, so lange, bis ich als Vogel auf einem Ast lande, und im übrigen nicht als Taube, nein, als Taube nicht. Ich bin hier gewesen, singe ich. Hier gewesen, wiederholt Herr Professor Icks. Ich bin bei Tisch gesessen, singe ich. Bei Tisch gesessen, wiederholt Herr Professor Icks. Ich habe Wein getrunken, singe ich. Wein getrunken, wiederholt Herr Professor Icks. Professor Icks? – »Ja, Lina Lorbeer?« – Mir ist so mulmig und aufregend und zittrig zumute und doch sehr, sehr weich. – »Umso besser, Lina Lorbeer. Innen muss alles ein Wirbel werden, ehe es langsam, ganz langsam wieder eine Form gewinnt, klare, klare Grenzen, die vom Wirbel gezeichnet sind für immer.« – O. Haben Ihnen das die Bücher oder das Leben erzählt, Herr Professor Icks? Ich bitte Sie sehr und mit meiner ganzen Kraft darum, mir jetzt die Wahrheit zu sagen. – »Aber Lina, welche Unterscheidungen. Wahrheit und Lüge, Lüge und Wahrheit, Leben und Buch. Sie müssen noch genauer das Unterscheiden lernen, die feinen Nuancen. Kommen Sie bald wieder in mein Büro!« Fast wackelt jetzt die Lampe in dem Gedicht auf dem zarten Ton an der Wand. Aber solches Wackeln will ich nicht! Und ich will auch nicht dazu überredet werden, es zu wollen. Die Lampe ist doch ein Freund für den, der fragt, ob sie noch da und einverstanden sei mit dem, was geschieht, und Freunde, nicht wahr, haben nicht beim geringsten Wirbel, beim kleinsten Sturm, an der Zimmerwand herumzuwackeln und zu zittern wie ich. Und zu überreden, als ob ich keinen Willen hätte, haben sie mich auch nicht. Ich kann mich doch nicht auf dem Sofa befestigen und schadlos unter meiner Decke halten, wo’s wohlig warm, aber sehr, sehr unruhig ist. Ich werde noch einmal aufstehen und einen Brief an Jakob schreiben. Lampe, stimmst du zu? Und Unglück, du auch?
Lieber Jakob, vielleicht – es kam so etwas auf, als ich übers Eis tanzte – wird sich eines Tages in mir alles beruhigt haben. Alles wird
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