Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
Vom Netzwerk:
Rosinen darin versteckt sind. – »Für Sie würde ich die Rosinen herauspicken.« Und was bleibt Lina Lorbeers und Herrn Professor Icks’ Augen jetzt anderes übrig als unterzugehen und am Meeresgrund als dunkelblaue Fische herum zu segeln? Was für eine Komödie! Hofnarr, stell dich an die Stirnseite der Tafel und erzähl das Märchen zu Ende. Und sogleich bricht der Narr die erste Narrenregel und verbeugt sich tief vorm versammelten Hofstaat: Meere verboten! Brunnen und Wälder und Wiesen und alles Wunderbare verboten! Und verboten vor allem, dass ein auszubildender Gedanke mit einem Professor Tee trinkt! Was für ein Professor, dessen Stuhl in der Aula von einem magischen Strick umkreist wird und sich dann sanft in die Lüfte hebt. Sehen Sie, sehen Sie doch, wie der Strick jetzt den Sessel packt und bewegt und zur Decke zieht? Welch hübsches Geschaukel! Der gesamte Hofstaat steht auf und blickt zum Himmel. Hände legen sich über Augen, Stirnen spannen sich an, eine einzige Konzentration richtet sich nach oben aus. Da tanzt für den, der mag, ein Sesselchen. Nur Lina Lorbeer, ganz am Ende der Tafel, hat den Kopf in die Hände gelegt und die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Sie schaut auf den leeren Teller vor sich und zeichnet mit ihren Augen eine Rosine hinein, zur Erinnerung.
    »Lina!« Flora rüttelt mich an der Schulter. »Du bist eingeschlafen, was für ein Irrtum. Bist du etwa hier aufgenommen worden, um zu träumen? Frau Professor Stein hat es gesehen, denn sie musste sich selber ein Buch holen, und zwar genau aus dem Regal neben dir.« Mir ist, als fieberte ich. Ins Notizbuch vor mir haben sich die Falten meiner Stirn gedrückt, und in den Falten liegt ein Teller und im Teller ein Punkt, eine Rosine nämlich, und neben der Rosine ein Haar. Zuhause werde ich das Blatt aus dem Notizbuch reißen, ans Fenster hängen und die Falten entschieden mit einem Buntstift hervorheben, für den Fall, dass das Papier dann schon beinahe geglättet oder gar platt gedrückt wäre. Lüge wäre solche Glätte, ja, Lüge, zumal wenn ein Glied meines Körpers darin geruht hat, nämlich mein Kopf, dem, wie Professor Icks gesagt hat, die Empfindsamkeit ins Gesicht geschrieben steht. Glaubst du mir, Lampe, dass er die Rosine für mich, weil ich keine mag, heraus gepickt hat? Dass ich mir diesen Satz nicht eingebildet, sondern wirklich gehört habe? »Wahrheit. Lüge. Sie müssen, Lina Lorbeer, einen kleinen Nachhilfeunterricht im Unterscheiden nehmen, in den vielen kleinen Nuancen, die die großen Gegensätze verfeinern, bis sie fast ganz zerfallen und sich auflösen.« Ja, o ja, jaja. Bin ich solcher Lektion wegen hier aufgenommen? Geduld, Geduld, es wird sich weisen, und so lange sich kein Grund als hinlänglich genug dafür erwiesen hat, werde ich an Jakob schreiben, meinen Freund Jakob.
    Lieber Jakob, stehe ich schon draußen, mit einem Fuß anderswo? Das darf nicht sein, fürchte ich, denn es wäre zu früh. Ich bin noch mit nichts an ein Ende gekommen und halte den letzten Schein nicht in Händen. Und doch zieht es mich so sehr hinaus, in die Straßen, die Parks, vor die Zäune, und ganz besonders in mein Zimmer. Liegt das nicht draußen, weit, weit daneben? Und wieder hängt etwas Neues da, aber nicht an der Wand, sondern am Fenster, ein Teller mit einer Rosine darin, ein Blatt aus meinem Notizbuch. Es wird wohl Zeit, in den Hörsaal zurück zu gehen, aber wie schwer fällt mir das. Ich kann ja kaum noch fassen, was von dort widerhallen will in meinem Zimmer. So viele Verbindungen tun sich auf! Da stoße ich auf Professor Icks im Café, und er winkt mich zu sich und teilt seinen Kuchen mit mir und pickt tatsächlich für mich, weil ich keine mag, die Rosinen heraus. Immer noch bin ich davon ganz durcheinander, denn Zärtlichkeiten solcher Art stehen wirklich nicht im Lehrplan und begegnen mir hier sehr selten. Und als er dann noch sagte, ich, Lina Lorbeer, scheine ein zartes Wesen zu sein, wären meine Augen beinahe in der Kaffeetasse ertrunken. Glaubst Du, sind solche Zärtlichkeiten ernst gemeint? Mir war sehr ernst zumute, zwar nach Lachen, aber doch sehr, sehr ernst. So ernst wie einem Menschen zumute werden könnte, den die Höffnung noch nicht ganz verlassen hat, dass Begegnungen bedeutsam sind? Wie peinlich, dass ich danach in der Bibliothek eingeschlafen bin. Flora hat mich geweckt. Es kann ja nicht einmal Flora den ganzen Tag auf der Bank im Hof sitzen und sich wünschen, dass Frau Professor Stein noch einmal

Weitere Kostenlose Bücher