Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
sie hätten zum Beispiel die Macht, meinen Tod zu befehlen«, wandte Heinrich ein.
»Aber warum sollten sie das tun? Jeder Fürst weiß, dass er Untertanen braucht, um zu herrschen. Mordet er sinnlos, gibt es bald keinen mehr, dem er befehlen kann. Es ist also Unsinn, zu stottern zu beginnen, wenn man vor ihnen steht – jedenfalls solange man ein reines Gewissen hat. Und trotzdem tut man es. Stell dir einen Bauern vor, der vor deinem Kaiser steht. Er wird kein Wort herausbekommen.«
Der Ritter nickte. Im Grunde war er aber immer noch nicht vom Nutzen der Syllogismen überzeugt.
»Lassen wir einmal die lebenden Könige beiseite und denken wir über Tote nach.«
»Die Drei Heiligen?«
Zenon nickte. »Bleiben wir bei unserem Beispiel. Eigentlich sind sie doch nichts als ganz normale Sterbliche gewesen. Was also macht sie zu Heiligen?«
»Gott hat sie auserwählt.«
»Stimmt das? Waren es nicht wir Menschen, die sie zu Heiligen ernannt haben?«
»Du meinst, sie sind gar nichts Besonderes?«, fragte Heinrich verblüfft.
»Doch, sonst wären sie schließlich nicht zu Heiligen gemacht
worden. Die Frage aber ist, was haben sie Besonderes getan? Was unterscheidet sie von gewöhnlichen Menschen?«
»Sie folgten dem Stern und waren Zeugen der Geburt des Heilands.«
»Ja und? Sie waren Sterndeuter. Sie wussten, dass unter diesem Stern der König der Könige geboren werden würde. Damit verfügten sie zwar über Wissen, das die meisten nicht hatten, doch das auszunutzen ist beileibe nichts Großartiges. Was sie von allen Mächtigen unterscheidet, ist das Ende der Geschichte. Der Stern führte sie zu einem Stall, in dem ein Zimmermann und seine Frau untergekommen waren. Arme Leute. Und ihnen war ein Kind geboren worden, das wie ein Bettlerkind keine bessere Wiege als eine strohgefüllte Krippe hatte. Und dennoch erkannten sie in diesem Bettlerjungen den König der Könige. Sie ließen sich nicht vom äußeren Schein täuschen und knieten nieder, um unserem Herrn Jesus Christus zu huldigen. Das allein macht sie zu etwas Besonderem. Die meisten Mächtigen wären niemals vor einem Kind niedergekniet, das in einem Stall geboren wurde.«
Heinrich kratzte sich nachdenklich am Kinn. Zenons Worte klangen einleuchtend, doch wenn man sie bis zu Ende dachte … »Es sind also nur ganz einfache Menschen? Wie können dann an den Altären der Heiligen Wunder geschehen?«
»Ich muss gestehen, ich habe noch nie erlebt, dass ein Lahmer eine Reliquie küsste und danach wieder gehen konnte. Aber das ist eine Frage des Glaubens. Wenn man überzeugt ist, dass dies geschehen kann, dann mag der Glaube, den man in sich trägt, vielleicht die Kraft haben, ein
Wunder zu wirken. Deshalb lieben die einfachen Menschen die Heiligen so sehr. Sie konfrontieren sie mit der Möglichkeit des Wunderbaren in ihrem Leben.«
»Wenn die Kraft für ein Wunder aus dem Gläubigen und nicht aus der Reliquie kommt, dann wäre es aber gleichgültig, was in einem Reliquiar liegt!«
»Richtig«, entgegnete der Mönch und schaute Heinrich mit funkelnden Augen an, wie ein Lehrer, der stolz darauf war, seinem Schüler etwas beigebracht zu haben.
»Ja, aber …« Heinrichs Herz begann zu rasen. Was Zenon behauptete, konnte nicht stimmen. Es durfte nicht stimmen!
»Beruhige dich! Indem jemand ein Heiliger wird, bleibt die Geschichte einer beispielhaften Tat lebendig. Man wird noch nach Jahrhunderten von dem Außergewöhnlichen sprechen, das dieser Mensch einmal geleistet hat. Dies ist die Nahrung für den Zweifler! Solche Taten können ihm zum Wegweiser in seinem Leben werden. Man erfährt, worauf es ankommt, wie zum Beispiel, dass man keine Krone tragen muss, um ein König zu sein. Aber auch, dass nicht jeder, der eine Krone trägt, unsere Demut verdient!«
Heinrich war zutiefst erregt. Was Zenon da sagte, war im höchsten Maße ketzerisch, und was es noch schlimmer machte, es klang einleuchtend! »Aber warum suchen wir dann nach dem dritten König? Wenn es stimmt, was du sagst, spielt es keine Rolle, welcher Leichnam verehrt wird.«
»Eine gute Frage.« Zenon sah zum Kreuz über dem Altar und schwieg einen Moment lang, bevor er fortfuhr. »Vielleicht tun wir es, weil wir im tiefsten Herzen der Überzeugung sind, dass die Gläubigen es verdienen, nicht betrogen
zu werden und wirklich einen der Drei Könige um ein Wunder bitten können. Ich fürchte aber, auch auf diese Frage musst du für dich allein eine Antwort finden.«
Das Wetter hatte sich in den
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