Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
erwachsener Mann hätte diesen Weg nicht nehmen können.
Vorsichtig schob Rother sich Stück um Stück vorwärts. Er war schon halb durch das Kellerfenster, als sich eine kalte Klinge an seine Kehle legte und eine Hand in sein Haar griff.
Ludwig war müde. Es hatte wieder zu regnen begonnen, als er in das kleine Zeltlager nahe der Straße ritt. Nur vier Meilen vor Mailand war es einer jener Heeresposten, die an allen großen Straßen zur Stadt lagen. Von hier aus brachen die Spähtrupps auf, die Mailand Tag und Nacht beobachteten. Es war das vierte Lager, das Ludwig aufsuchte. Nirgends hatte man Rother gesehen. Der Junge wäre aufgefallen. Es war schon erstaunlich, wie viele Krieger die Geschichte von seinem Ritt kannten. Der Junge war berühmter, als er erwartet hätte.
Der Regen hatte die Feuer gelöscht, und die Pechfackeln
spien zischend Rauchwolken, ohne recht leuchten zu wollen. Kaum jemand zeigte sich im Lager. Ludwig blickte sehnsüchtig zu einem Zelt, das, von Kerzen erleuchtet, wie eine bunte Laterne aussah. Helles Frauenlachen erklang dort. Dieses Frühjahr war es fünf Jahre her, seit er seine Stiefschwester das letzte Mal gesehen hatte. Sein Vater hatte sie ohne ein Wort, ohne eine Erklärung fortgebracht. Dass sie in einem Kloster war, war alles, was er später aus dem Alten herausbekommen hatte. Anfangs hatte Ludwig darüber gelacht. Für ein romantisches Abenteuer hatte er es gehalten und war von Kloster zu Kloster gezogen. Natürlich hatten die frommen Frauen ihn stets abgewiesen, aber er hatte jedes Mal Mittel und Wege gefunden, doch noch hinter die heiligen Gemäuer zu gelangen. Allerdings immer vergebens. Seine Schwester war wie vom Erdboden verschluckt. Ludwig blickte auf. Ganz in Gedanken versunken, hatte er den verwaisten Feldposten hinter sich gelassen. Auf der Straße voraus näherte sich eine dunkle Gestalt auf einem Pferd.
Der Fremde hob die Schwerthand. »Gott zum Gruße, Kamerad!«
Ludwig nickte ihm zu und erhob gleichfalls seine Hand zum Gruß. Der Reiter war ein blutjunger Kerl, der es offenbar eilig hatte. Kein Wunder bei diesem Regen. Der Bursche hatte ihn bereits passiert, als Ludwig sich noch einmal umwandte. Und da traf es ihn wie ein Blitzschlag. Das Pferd! Die Stirnblesse! Der Kerl saß auf Rothers Stute!
Entschlossen riss Ludwig sein Pferd herum und jagte dem anderen hinterher.
Es dauerte nur Augenblicke, bis er den Fremden eingeholt hatte. Der junge Reiter sah ihn überrascht an, dann
lachte er. »Na, auch dazu entschlossen, den Rest der Nacht an einem trockenen Plätzchen zu verbringen? Keine halbe Meile von hier ist das Heerlager.«
Statt einer Antwort versetzte Ludwig dem Mann einen heftigen Stoß mit dem Ellenbogen. Ungelenk, weil er mit allem, nicht jedoch mit einem plötzlichen Angriff gerechnet hatte, stürzte der fremde Ritter aus dem Sattel. Ein Keuchen entrang sich seiner Kehle. Es zeugte eher von Überraschung als von Schmerz.
Ludwig schwang sich aus dem Sattel und zog noch in derselben Bewegung das Schwert. Hastig griff er nach den Zügeln von Rothers Stute. Der andere versuchte sich aufzurichten, aber Ludwig drückte ihn mit dem Fuß in den Schlamm der Straße zurück. »Du wirst mir sofort sagen, wo du dieses Pferd gestohlen hast.« Die Klinge seines Schwertes war keinen Zoll von der Kehle des fremden Ritters entfernt.
Rother schrak auf, als er ein Geräusch an der Tür hörte. Der schwere eiserne Riegel wurde zurückgeschoben. Der Junge mit dem Messer hatte ihn hierhergebracht, in ein großes Haus mit Säulenhof, ganz in der Nähe des Lochs, aus dem er gekrochen war. Jetzt würden sie kommen, um über ihn zu richten! Sie hatten ihn so lange verhört, bis er zum Schluss selbst nicht mehr wusste, was er sagen oder besser verschweigen sollte. Ja schlimmer noch … Er war sich selbst nicht mehr sicher, was er alles während der endlosen quälenden Stunden verraten hatte und was nicht.
Das gelbe Licht einer Laterne blendete Rother. Langsam richtete er sich auf. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Durch die offene Tür hörte er das Rauschen von Regen. Es
waren zwei, die eintraten. Im ersten Moment konnte er sie nur als vage Schatten hinter dem Licht erkennen.
An die Tür gelehnt stand der Junge, der ihn gefangengenommen hatte. Seine Hand ruhte auf dem kurzem Schwert am Gürtel. Rother starrte den Jüngling mit wachsender Verwunderung an. Er war sich sicher, dass es derselbe war, der die Kinder angeführt hatte, die nachts heimlich vor die Stadt
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