Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Lippen. »Schweig. Jetzt ist keine Zeit für Fragen.« Ohne abzuwarten, ob er ihm folgte, eilte Angelo voran und trat hinter dem Hochaltar durch eine niedrige Bogentür. Dort führte eine schmale Wendeltreppe in die Tiefe und mündete schließlich in einer kühlen Kammer mit hohem Deckengewölbe. Der Raum mochte vielleicht fünf Schritt weit sein. Fast die Hälfte davon war jedoch ausgefüllt von etwas, über das man ein fleckiges weißes Tuch gebreitet hatte. Nur eine einzige Öllampe, die an einer rostigen Kette von der Decke hing, erleuchtete den Raum. Ein eigenartiger Geruch hing in der Luft. Wie von Harz und seltenen Gewürzen.
Angelo blieb mitten in dem Gewölbe stehen, stemmte die Hände in die Hüften und erinnerte Rother in diesem Augenblick ein wenig an eine Marktfrau, die stolz hinter ihren Körben mit prächtigen Früchten posierte.
»Wo sind wir hier?«, fragte der Knappe verwundert.
»Unter dem Glockenturm von Sankt Giorgio al Palazzo. Dort, wo du hinwolltest.«
Rother sah sich verwirrt um. Außer der Treppe gab es keinen anderen Zugang zu dem Gewölbe.
Mit einem Ruck zog Angelo das fleckige Tuch zur Seite. Es hatte drei schlichte Holzsärge bedeckt. »Caspar, Balthasar und Melchior. Die Drei Könige!« Der Junge verbeugte sich vor den Särgen, als stünde er lebendigen Herrschern gegenüber.
»Das …« Rother sah abwechselnd zu den Särgen und zu Angelo. Hastig kniete er nieder und bekreuzigte sich. Die
Könige! Voller Inbrunst begann er zu beten. So versunken war er in seiner heiligen Einkehr, dass er erst zurück in die Wirklichkeit fand, als Angelo ihm auf die Schulter klopfte und sich laut räusperte. »Du kannst auch später beten.«
Fassungslos sah Rother zu dem Jungen auf. Was war geschehen? »Ihr habt gesagt, ihr wüsstet auch nicht, wo die Heiligen versteckt sind. Erst gestern hat dein Vater doch noch behauptet, die Drei Könige seien niemals in die Stadt gebracht worden.«
»Du weißt offenbar immer noch nicht, wer mein Vater ist.« Angelo klang ehrlich überrascht. »Er ist Anselmus de Mandello, einer der Konsuln von Mailand. Heute Morgen hat er unseren Erzbischof Obert besucht und von ihm erfahren, dass die Drei Heiligen in aller Heimlichkeit hierhergebracht worden sind.«
Rother blickte wieder zu den schmucklosen Särgen. Ein schrecklicher Zweifel überkam ihn. »Und warum sollte ich dir das glauben? Weshalb solltest du mir, einem Feind, ein Geheimnis anvertrauen, das selbst vor dem Volk von Mailand und den Konsuln gehütet wurde?«
»Ja, warum?« Angelo lächelte ihn an.
Rother brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was Angelo meinte. Er spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Ja, das war nicht mehr als ein letzter Gefallen, den man ihm, dem zum Tode Verurteilten, erwies. »Heute noch?«, fragte er leise.
Der Lombarde nickte. »Bei Einbruch der Nacht ist es so weit. Wenn du beten möchtest, dann solltest du es jetzt tun. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Du hast also meinen Tod beschlossen?«
»Deinen Tod?« Angelo schüttelte überrascht den Kopf. »Wir sind keine Mörder so wie euer Kaiser!«
Rother sah beschämt zu Boden. »Ich dachte nur an die Geschichten über Crema. Man erzählt sich …«
»Ja, was erzählt man sich! Auch dort waren es doch die Waffenknechte des Kaisers, die sich wie tollwütige Hunde im Blut ihrer wehrlosen Opfer gesuhlt haben.« Wut blitzte in Angelos Augen auf, aber als er weitersprach, klang seine Stimme bald wieder versöhnlicher. »Mein Vater war der Meinung, dass deine Geschichte viel zu verrückt klang, um eine Lüge zu sein. Er hat dir von Anfang an geglaubt, auch wenn er es natürlich nicht gezeigt hat. Du bist beileibe nicht der Erste, der versucht hat, sich in die Stadt zu schleichen. Aber der Erste, der es tat, nur um am Grab der Heiligen zu beten.«
Rother sah wieder zu Boden. Einen Augenblick lang war er versucht, Angelo den wahren Grund zu verraten, warum er gekommen war. Dann besann er sich. »Aber war es nicht an dir? Solltest nicht du über mein Leben entscheiden?«
Angelo lächelte wieder. »Mein Vater wollte mich nur auf die Probe stellen. Er wollte wissen, ob mein Verstand über meine Wut siegen würde. Dir gegenüber empfinde ich keinen Hass. Ich weiß, dass du meine Gefährten und mich hättest verraten können. Die Schmuggler … Über eine Woche haben wir es nicht mehr gewagt, uns mit ihnen zu treffen, nachdem ihr zum ersten Mal dort gewesen seid. Jede Nacht habe ich die Kirche und den Friedhof beobachtet
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