Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Eustorgio näherten, löschte Angelo die Öllampe, damit kein Licht sie verraten konnte. Ein letztes Mal musterte er Rother, so als sei er sich seiner Sache nicht ganz sicher. Dann streckte er die Hand aus. »Viel Glück! Ich hoffe, wir werden uns nie in einer Schlacht gegenüberstehen. Es ist leichter, jemanden zu töten, den man nicht kennt.« Er lächelte schief und stand dabei so steif wie ein Wachsoldat.
»Vertrauen wir auf die Gunst der Heiligen«, entgegnete
Rother. Er bemühte sich, gelassen wie ein alter Krieger zu wirken und seine widerstreitenden Gefühle zu verbergen. Angelo war ein Feind!
Gewiss, er verdankte dem jungen Mailänder sein Leben. Aber er hatte nicht vergessen, wie dieser mit seiner Angst gespielt hatte. Und Rother war auch klar, was für eine Scharade sie ihm mit den Wachen und dem Festbankett vorgespielt hatten. Hielten sie ihn denn für ein Kind? Aber was wollte man letztlich von einem Mailänder schon erwarten … Angelo zog eine Lederrolle mit dem Siegel der Konsuln aus seinem Wams und reichte sie Rother. »Du wirst deinen Schwur halten?«
»Niemand anderm als dem Kaiser werde ich das Schreiben überreichen.« Der Knappe legte feierlich die Rechte auf sein Herz. »Ich schwöre bei der Jungfrau Maria, dass ich mein Wort niemals brechen werde.«
Angelo nickte. »Das soll mir genügen.«
Dann trennten sie sich. Angelo verschwand wieder in der Grabkammer, und Rother schlich in die dunkelste Ecke des Friedhofs, um sich nach seinem Pferd umzusehen. Hatte die Stute so lange hier ausgeharrt, oder war sie irgendwann davongelaufen? Er stieß einen leisen Pfiff aus, aber nichts rührte sich. Das Pferd war verschwunden. Ob die Schmuggler es eingefangen hatten? Aber hätte ihm Angelo nicht davon berichtet?
Hilflos blickte der Knappe zum Portal der kleinen Kirche. Er kniete noch einmal vor dem leeren Sarkophag der Könige nieder und betete, bevor er sich auf den langen Rückweg nach Lodi machte.
Leichter Bodennebel wallte zwischen den Gräbern. Rother fröstelte. Ihm war, als zöge aus den Grüften eine unheimliche
Kälte herauf. Rother beschleunigte seine Schritte. Hatte sich da etwa in den Schatten einer bewegt?
Eine Hand legte sich über seinen Mund, und grob wurden ihm die Arme auf den Rücken gezerrt. »Sei still, wenn dir dein Leben lieb ist«, zischte eine leise Stimme.
Er wurde auf die Rückseite der Kirche gebracht, wo man von den Mauern der Stadt aus nicht mehr gesehen werden konnte. Dort lagerte eine Gruppe von zehn Kriegern. Es waren Staufer! Wahrscheinlich ein Spähtrupp. Ärgerlich begehrte Rother gegen seine Peiniger auf, doch konnte er sich aus dem harten Griff nicht befreien. Zugleich schämte er sich zutiefst, ein zweites Mal so leicht überrumpelt worden zu sein.
»Na, Bürschchen, wenn du uns schön erzählst, was du vorhast, dann schneiden wir dir vielleicht nur die Nase ab«, rief einer der Männer gehässig.
Ein Ritter kam von der anderen Seite der Kirche und gab ein Zeichen, Rother freizugeben. Es war ein hagerer, blonder Kerl mit müdem Gesicht.
»Ich bin kein Mailänder. Ich bin Rother von Reuschenberg und diene als Knappe dem Herrn Anno von Sennberg«, erklärte der Junge mit schwankender Stimme.
»Natürlich«, entgegnete der Anführer spöttisch. »Und ich bin der Herzog von Schwaben! Du sprichst unsere Sprache gut, aber uns täuschst du nicht. Was sollte ein Knappe aus dem Heer des Kaisers wohl in Mailand tun?«
»Ich bin ein Bote …«
Der Ritter zog einen langen Dolch aus dem Gürtel. »Seit Wochen haben wir keinen Boten mehr nach Mailand geschickt. Du bist ein Spitzel, und morgen früh werden deine Freunde auf den Mauern sehen können, was wir mit solchen
wie dir machen!« Er winkte einem der Waffenknechte. »Das Seil! Wir hängen den Kleinen an den Baum dort neben der Kirche, so dass man ihn von der Stadt aus sehen kann.«
»Aber ich sage die Wahrheit!«, rief Rother verzweifelt. »Unter meinem Hemd trage ich eine Nachricht an den Kaiser!«
Der Anführer riss Rother das zerlumpte Hemd auf und fand die lederne Schutzrolle. Unschlüssig drehte er sie zwischen den Fingern. Dann reichte er sie endlich einem seiner Krieger. »Warum sollte man einem Bettlerjungen eine Nachricht an den Kaiser anvertrauen?«, fragte er misstrauisch.
»Weil ich aus der Stadt herauskomme und …«
Der Ritter schlug ihm ins Gesicht. »Jeder Bote, der mit dem Kaiser verhandeln will, hat freies Geleit! Diese Nachricht ist gewiss für den Ketzerpapst in Genua oder irgendwelche
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