Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Kampfesmut und ritterliche Tugenden waren das Hauptmerkmal seiner Truppe. Man hatte sie ausgesucht, weil sie stattlich aussahen, oder sie zur Leibwache der Kaiserin versetzt, weil Friedrich den Familien der Ritter einen Gunstbeweis schuldig war.
Selten hatte Rother sich in seinem Leben so sehr gelangweilt wie in den letzten Wochen. Seit er sich täglich in unmittelbarer Nähe der Kaiserin aufhielt, war seine Angst vor den Mächtigen verflogen. Er wich ihrem Blick nicht mehr aus und begann auch nicht mehr hilflos zu stammeln, wenn sie das Wort an ihn richteten. Aber es half ihm wenig. Die Männer seiner Wachtruppe waren eifersüchtig auf seinen Erfolg, und die wenigen Adligen hier sahen ihn als einen
Emporkömmling an. Er hatte hier keine Freunde, ja kaum jemanden, mit dem er überhaupt reden konnte.
Eine Bewegung in der Nähe des Palas ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Einen Augenblick lang war nahe der Tür ein Schatten aus der Dunkelheit getreten, nur um im nächsten Moment wieder mit der Finsternis zu verschmelzen.
Rother beugte sich vor und beobachtete angespannt den Hof. Eine Gestalt lief geduckt durch den unruhig zitternden Lichtkreis, den die Fackel vor der Kapelle aus der Dunkelheit schnitt.
Hastig kletterte Rother vom Baugerüst. Sollte er Alarm geben? Vielleicht war es nur ein Stallbursche, der ein heimliches Stelldichein mit einer der Küchenmägde hatte. Er entschied, dass es besser war, dem Schatten zunächst allein zu folgen. Mit einem kurzen Blick zum Torbogen vergewisserte sich Rother, dass dort alles in Ordnung war. Solange die Bauarbeiten nicht abgeschlossen waren, konnte man keine Torflügel einsetzen. Man konnte also völlig ungehindert die Pfalz betreten. Deshalb hatte er dort doppelte Wachen eingeteilt. Zwei Krieger standen, eng in ihre Umhänge gehüllt, im Schatten des Torbogens. Die anderen waren gewiss in der Wachstube.
Rother überquerte den Hof und ging zur Kapelle. Der Schatten war verschwunden. Doch da ächzte leise eine Tür in den Angeln. Die Pferdeställe! Der Junge beschleunigte seine Schritte. Er fand die Stalltür offen. Die Pferde schnaubten unruhig und scharrten mit den Hufen auf dem festgestampften Lehmboden. Geduckt schlich Rother durch die Tür. Am Ende des Mittelgangs flammte eine Blendlaterne auf. Jemand nahm einen Sattel von einem Balken.
»Wer da?«, fragte Rother scharf.
Die Gestalt fuhr erschrocken herum. Es war Clara. Sie trug einen langen Kapuzenmantel und Hosen!
Rother entspannte sich und ging auf sie zu.
»Ach, Ihr seid es, Herr von Linn.« Clara lächelte ihn scheu an. Wenn sie überrascht war von seinem plötzlichen Auftauchen, so zeigte sie es zumindest nicht. »Ihr könnt mir helfen. Ich will die alte graue Stute satteln. Ich muss fort!«
Rother blieb stehen. Ihm war nicht wohl, Clara so gegenüberzutreten. »Wohin wollt Ihr, Herrin?«
Sie warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. »Fort von diesem Ort. Gegen meinen Willen bin ich hierhergekommen und wohl auch gegen den Willen derer, denen ich mich anschließen sollte.«
»Ich verstehe nicht …«
»Mein Vater hat mich bedrängt, an den Hof der Kaiserin zu kommen und einen Platz unter den Jungfern einzunehmen, die ihr zu Diensten sind. Die Kaiserin hat mich auch mit Gnade aufgenommen, doch vergeht kein Tag, an dem mich ihre Gefolgschaft nicht schmäht.«
»Und was hat man Euch angetan?« Rother versuchte, seiner Stimme einen verständnisvollen Klang zu geben.
»Während der Messe hat man mir heißes Wachs in die Haare geträufelt und so getan, als wäre es ein Unfall gewesen. Und erst gestern fand ich auf dem Grunde meiner Suppenschüssel eine tote Maus …«
»Wart nicht Ihr es, die der Nichte des Erzbischofs von Fulda einen solchen Schlag ins Gesicht versetzte, dass dem Mädchen auf Tage das rechte Auge zugeschwollen war?«
Clara warf stolz den Kopf in den Nacken. »Ich hätte ihr beide Augen ausgekratzt, wenn man mich nicht zurückgehalten
hätte. Diese intrigante Ziege! Sie ist es, die unter den Kammerfrauen stets als Erste das Wort gegen mich führt.«
»Und ihretwegen wollt Ihr gehen? Soll sie triumphieren, indem sie Euch der Ehre beraubt, in den Gemächern der Kaiserin zu dienen.«
»Spart Euch die Mühe, Rother. Ich habe längst entschieden, dass hier kein Platz für mich ist«, erwiderte Clara trotzig.
»Aber denkt doch an Euren Vater. Es ist sein größter Wunsch, Euch glücklich unter den Hofdamen der Kaiserin zu sehen.«
»Soll er sich entscheiden, ob er mich lieber
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