Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
erzählt, wie man in einer Stadt überlebt, in der die Menschen vor Hunger sterben.« Der Archipoeta bekreuzigte sich. »Ich wünschte, er wäre nicht aus seinen Fieberträumen erwacht. Gott hat ihm eine schwere Prüfung auferlegt.«
»Wird er leben?« Heinrich schaute den Dichtermönch ratlos an.
Der Archipoeta schüttelte den Kopf. »Nur wenn Gott ein Wunder wirken würde. Aber Rother hat noch einen Wunsch. Er möchte, dass wir ihn zu den Heiligen Drei Königen bringen.«
»Er sagt, sie sprechen zu ihm, nicht wahr?«
»Ja. Ich weiß nicht, ob es in seinen Fieberträumen geschieht oder ob …« Der Mönch zögerte. »Oder ob wir wirklich Zeugen von etwas Unerklärbarem sind.«
»Dann bringen wir ihn zu ihnen!« Heinrich schien für einen Moment seine Trauer um Rother abzustreifen. Es war besser, etwas zu tun, als immer nur neben dem Lager des Jungen zu sitzen und zu beten. Vielleicht riefen ihn die Heiligen ja wirklich zu sich? Vielleicht würden sie Zeugen eines Wunders werden.
»Ja«, sagte der Mönch. »Diesen letzten Dienst sollten wir ihm erweisen.«
Sie gingen in das Zelt hinein und hoben Rother von seinem
Lager auf. Dankbar lächelte der Junge sie an. Er war so leicht wie ein Lämmlein.
»Ist es so weit? Bringt ihr mich nun zu den Heiligen?«, fragte er mit fiebriger Stimme.
Heinrich nickte nur. Auch der Archipoeta brachte ganz gegen seine Gewohnheit keinen Ton heraus. Mit ernsten, feierlichen Mienen trugen sie Rother zum Tor der Pfalz.
Das Tor war weit geöffnet. Trotz des Friedens mit Mailand drängte sich eine stattliche Zahl Krieger um das Wachfeuer. Einer der Männer trat ihnen entgegen. Er wollte das Wort an sie richten, als er erkannte, wen sie trugen. Längst hatte die Leibwache der Kaiserin einen neuen Anführer erhalten, doch die Geschichte Rothers hatte unter allen Kriegern die Runde gemacht. Es gab keinen zweiten Ritter im Heer Friedrichs, der so berühmt war wie der Junge. Vor allem unter den einfachen Kriegern, den Spießträgern, Bogenschützen und Knappen, war er zum Helden geworden. Eine fast schon mythische Gestalt, so wie der Paladin Roland, der einst an der Seite des Kaisers Carolus geritten war.
»Der Kronenritter!«, rief der Wachmann mit rauer Stimme. Sogleich drehten sich die Männer am Feuer um und kamen herüber. Sie bildeten zu beiden Seiten des Tors eine Reihe, ganz als zöge der Kaiser selbst in die Pfalz.
Der Archipoeta spürte, wie der Junge zu zittern begann. »Bitte tragt mich schnell weiter«, flüsterte Rother.
Bis sie die Kapelle erreicht hatten, sprach keiner von ihnen. So viele Lieder und Spottreime hatte er gedichtet, doch in diesem Augenblick fühlte der Archipoeta sich unfähig, ein Wort des Trostes oder der Aufmunterung zu finden.
Sie durchquerten das Mittelschiff und öffneten die Tür
zur kleinen Seitenkammer, als sich ein großer Schatten drohend vor ihnen aufbaute.
»Wer ist dort?«, rief eine dunkle Stimme, die Heinrich wohlvertraut war.
»Anno?«
Hinter dem Sennberger erschien ein zweites Gesicht im Licht einer Laterne. Ludwig!
»Was tut ihr hier?«, fragte Heinrich.
»Der Erzbischof hat uns vor ein paar Stunden einen Mönch geschickt. Wir haben Befehl, die Krypta zu bewachen! Niemand darf dort hinabsteigen.«
»Aber uns werdet ihr doch hineinlassen«, warf der Archipoeta ein. »Rother will beten. Wir haben versprochen, ihn zu den Königen zu bringen.«
Anno schüttelte den Kopf. »Der Befehl war eindeutig!«
»Verdammter Dickschädel«, fluchte Heinrich. »Ohne den Jungen würden die Könige nicht dort unten ruhen! Er hat sie gefunden! Und er hat die Kirche bewacht, obwohl die Mailänder Schlächter ihm …«
»Lass es gut sein«, flüsterte Rother. Es war das erste Mal, dass er sprach, seit sie das Tor verlassen hatten. »Ich höre ihre Stimmen.«
»Nein, nichts ist gut!«, ereiferte sich Heinrich. »Bist du blind, Anno! Sieh dir den Jungen an! Nur ein Wunder kann ihn noch retten. Ich schwöre bei Gott, ich schlage dir den Schädel ein, wenn du …«
Ludwig drängte sich zwischen sie. »Wir sind in einer Kirche! Haltet an euch! Und was kann es schon schaden, wenn Rother bei den Königen ein Gebet spricht.« Er packte Anno bei den Schultern und hielt ihn zurück. »Der Erzbischof muss nichts davon erfahren.«
Heinrich und der Archipoeta schoben sich mit dem verkrüppelten Rother im Arm an ihnen vorbei. Der Junge war wieder in sein Schweigen verfallen. Er wirkte merkwürdig angespannt, so als lausche er tatsächlich auf Stimmen, die
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