Königin der Engel
verteilen, Spiegel würden den winterlichen Sonnenaufgang verbreiten, das Licht wie ein Echo von einem Turm zum anderen werfen, Sonne aus zweiter, dritter und vierter Hand, aber trotzdem noch Sonne.
»Gehen wir ein bißchen Sonne suchen«, flüsterte er.
55
Mary Choy hatte sich einen Sessel quer durch ihr geräumiges Bad zum Ostfenster gezogen. Dann hatte sie sich hingesetzt und auf den Sonnenaufgang gewartet. Die Sonne war eine Stunde, nachdem sie aufgewacht war, aufgegangen, und aus der Perspektive der Villa hoch oben in den Bergen von Hispaniola war die Morgendämmerung kurz und schön gewesen. Mit dem Tageslicht hatten sich Wachposten und Soldaten im Garten unter dem Fenster versammelt. Sie standen zu dritt und zu viert beieinander, bis sie von der Morgenwache abgelöst wurden.
Der Himmel über Mary war von einem staubigen Blau. Durch eine Lücke zwischen einigen Bergen im Norden konnte sie ein Stückchen Meer und den Horizont dahinter sehen. Ein paar Wolken sammelten sich über Berggipfeln im Süden und ließen sich in den Winden Federn an ihren grauen Flügeln wachsen.
Mary verließ ihren Platz am Fenster, um ihre morgendlichen Waschungen vorzunehmen. Sie schaute in einen Ganzkörperspiegel, der auf der Rückseite der schweren hölzernen Tür zum Bad angebracht war, und stellte fest, daß ihr blasses Mal in der Pofalte dunkler wurde. Bald würde sie ganz schwarz sein. Selbstheilung. Dr. Sumpler würde höchst erfreut sein.
Während ihres Aufenthalts auf Hispaniola hatte Mary das gesamte Spektrum düsterer Emotionen durchlaufen: Furcht, Zorn und Bestürzung. Jetzt war sie einfach nur gelassen. Vor dem Schlafengehen hatte sie getaischt; nun tanzte sie den Kriegstanz, wobei sie ihre körperlichen Spannungen auf bestimmte Rollen verteilte, um sie abzuagieren. Sollten sie doch zusehen. Sollten sie sie doch hinrichten, in Angst versetzen, verwirren; während des Tanzes konnte sie nichts aus der Ruhe bringen, und nach dem Tanz ruhte sie wieder in sich selbst. Sie hatte das Gefühl, daß sie die Dinge im Griff behalten konnte, komme was da wolle.
Madame Yardley hatte sich am Abend zuvor von der Tafel zurückgezogen, und die Diener hatten ein üppiges Festmahl hereingebracht. Soulavier hatte sich den Bauch vollgeschlagen; Mary hatte genug gegessen, um bei Kräften zu bleiben. Sie hatten nicht mehr miteinander geredet. Nach dem Dinner hatten sie sich getrennt, und Mary war zu ihrem Zimmer gebracht worden.
Sie hatte ein paar Hypothesen entwickelt, die sie im Lauf des Tages reduzieren zu können hoffte. Hypothese Nummer eins: daß dies gar nicht Yardleys Villa war, sondern ein historisches Relikt, das jetzt aus irgendeinem strategischen Grund benutzt wurde. Nummer zwei: daß schließlich niemand viel über Yardley wußte, jedenfalls nicht die Menschen, die er regierte. Nummer drei: daß alles, was sie vor Madame Yardleys Erscheinen über Goldsmith gehört hatte, eine Lüge gewesen war. Nummer vier: daß Madame Yardley nicht ganz bei Trost war und überhaupt nichts wußte.
Eine Frau, die fastete, um die Aufmerksamkeit ihres eigenen Mannes auf sich zu lenken!
Die Zimmertür war nicht abgeschlossen. Trotzdem war Mary im Zimmer geblieben. Sie bedauerte den Verlust der Pistole nicht mehr. Rache war kaum eine Genugtuung, wenn sie an Ameisen vorgenommen wurde, die nur ihren sozialen Pflichten nachkamen.
Der Kriegstanz hatte ihre Gefühle nicht ausgelöscht. Er hatte sie nur konzentriert. Was sie jetzt empfand, war eine starke, wachsame Gelassenheit; eine aggressive Ruhe, die zu gleichen Teilen aus Geduld und gut kanalisiertem Zorn bestand.
Sie richtete sich im Bad die Haare, begutachtete ihr Mittelkostüm und kam heraus, als ein leises Klopfen an der Tür ertönte.
»Mademoiselle, das Frühstück ist fertig. Sind Sie soweit?« fragte eine Frau.
»Ja«, antwortete sie und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Punkt neun.
Die Tür öffnete sich langsam, und ein kleines rundes Gesicht wurde hereingestreckt, fand sie und lächelte. »Kommen Sie, bitte.«
Sie folgte dem winzigen Dienstmädchen durch den Flur mit den Schlafzimmertüren, dann nach links statt nach rechts und an der Treppe vorbei. Sie befanden sich jetzt im Westflügel des Hauses, wo sie vorher noch nicht gewesen war.
Das Dienstmädchen machte eine Tür auf, und Marys Blick fiel in ein kleines Zimmer, das als Büro eingerichtet war. Eine ältere Frau in einem schlichten schwarzen Hemdkleid stand vor einem Regal mit Speicherboxen. Soulavier saß
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