Königin der Engel
dessen Scharfeinstellung nacheinander verschiedene Ebenen hervorhob und dabei immer mehr Einzelheiten einer Welt im Fixiermittel enthüllte.
Der Effekt war so faszinierend, daß er sein Elend einen Moment lang völlig vergaß. Er hatte gehört, wie Freunde das Erlebnis von >Augapfelfilmen< beschrieben – hatte gehört, daß es vor vielen Jahrzehnten Klarträumen genannt wurde –, aber er hatte es bis jetzt noch nie erlebt. Es war wie das Tor zu einem inneren Universum.
Aber der Gedanke daran brachte ihn zu seinen Problemen im Wachzustand zurück, und die Szenerie über ihm trübte sich. Seine Atmung stockte erneut.
– Herrgott nein. Als ob man ein Pferd reiten würde. Lerne wie man im Sattel bleibt. Ruhig und gelassen.
Seine Atmung wurde wieder regelmäßig. Er kontrollierte seine Wahrnehmungsfähigkeit, bis er den Tunnel sehen konnte. – Ach warum nicht.
Er begab sich in den Tunnel hinein. Die Worte waren immer noch unverständlich; die Buchstaben wurden komplizierter und wichen dann vor ihm zurück, als er sich ihnen näherte. Mit einem Mal war der Tunnel verschwunden, und eine Stimme sagte so deutlich zu ihm, als ob sie in sein waches Ohr spräche: Hier ist, was du brauchst, Richard Fettle.
Er stand in der alten Wohnung in Long Beach. Das Tageslicht draußen war hell, aber irgendwie düster; die Farbe des Traums. Dennoch konnte das hier ebensogut eine Erinnerung sein; alles war genau richtig. Er lief mit verschränkten Armen in der Wohnung herum und spürte seinen Traumkörper, seine Traumatmung. Dies war real, obwohl es die Wohnung nicht mehr gab; das jahrhundertealte Gebäude war vor einem Jahrzehnt oder mehr abgerissen worden.
Mit einem plötzlichen Schreck fragte er sich, ob Gina – von Dione zu einem Besuch bei ihm vorbeigebracht – durch die Tür hereinkommen würde. Könnte er es ertragen, ein vollkommen überzeugendes Traumbild der Toten zu sehen?
Richard schaute auf seine Handflächen.
– Traumgefühle. Alles ist sicher. Du hast die Dinge im Griff. Versuch irgendwas.
– Versuch zu fliegen.
Er befahl sich mit aller Willenskraft, vom Boden abzuheben. Seine Füße blieben auf dem Boden.
– Kannst nicht alles.
Er versuchte, eine schöne Frau – nicht Nadine – in provozierender Kleidung durch die Tür hereinkommen zu lassen.
– Wie real kann das werden.
Keine Frau kam zur Tür herein.
Wieder die Stimme: Das ist, was du brauchst, Richard Fettle.
Gezüchtigt erkannte er, daß er nicht hier war, um Spielchen oder Experimente zu machen. Es war in der Tat ein Tor geöffnet worden, aber aus einem speziellen Grund.
– Was brauche ich?
So automatisch wie der ferne Schlafrhythmus seines Atems ging er zu einem Stuhl, setzte sich und fühlte, wie eine Wolke der Traurigkeit über ihn hinwegzog. Er wollte aufstehen, aber es gelang ihm nicht, obwohl er sich alle Mühe gab. Er konnte die Wolke nicht vertreiben.
– Nicht das wieder. Nein.
Sein Protest wurde ignoriert.
Ein jüngerer Emanuel Goldsmith stand in der Tür. Er hatte eine Flasche in einer Plastiktüte und ein Manuskript in einer Schachtel unter dem anderen Arm dabei. Er machte die Tür hinter sich zu. Richard beobachtete diese Erscheinung schwarze Haare keine grauen Strähnen altmodische Kleider glatteres Gesicht. Freundliches Lächeln.
»Dachte mir, du könntest Gesellschaft brauchen. Wenn du nicht willst…« Goldsmith machte eine Geste zur Tür. »Dann geh ich.«
Automatisch: »Danke. Bleib hier. Ich hab nicht viel zum Lunch da…«
»Flüssiger Lunch, oder ich laß uns was kommen. Hab gestern einen Tantiemenscheck gekriegt. Restbeträge von einer Videoproduktion. Moses.« Goldsmith setzte sich auf ein abgenutztes Sofa, wobei er einen Rotweinfleck mied, wo Dione vor einiger Zeit ein Glas umgestoßen hatte. Er legte das Manuskript auf den Fleck.
Gina und Dione würden nicht durch die Tür hereinkommen.
In diesem Zeitrahmen, in dieser Traumerinnerung, waren Gina und Dione bereits tot. Richard sah eine Aufzeichnung; er konnte nichts anderes tun als zuschauen.
Das ist, was du brauchst, Richard Fettle.
»Was für eine Flüssigkeit?« fragte Richard.
»Reiner Single Malt Scotch. Um die Bezahlung meiner Schulden zu feiern.« Er hob die Augenbrauen, zog die Flasche heraus, nahm den Hals zwischen zwei Finger und den Daumen und ließ Richard den bernsteinwarmen Inhalt sehen. Dann holte er zwei Schnapsgläser aus der Tüte. »Da du kein Schluckspecht bist, wirst du wohl kaum zwei von denen hier rumstehen haben.«
»Ich hab noch
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